Denken und Künstliche Intelligenz

Edwin Hübner

Denken ist »nichts anderes als Symbolverarbeitung, so wie sie auch in Computern stattfindet« – für Transhumanisten wie Ray Kurzweil gilt es als ausgemachte Sache, dass man durch eine genaue Erforschung der Hirnvorgänge das Denken völlig ergründen könne. Könnte man das Gehirn technisch nachbilden, hätte man ein denkendes Gerät – eine künstliche Intelligenz.

Diese wiederum wäre zu fortwährender technischer Verbesserung in der Lage, bis sie den Menschen weit überträfe. Dieser Glaube, dass man eine allgemeine künstliche Super-Intelligenz bauen könne, wird durch singuläre Erfolge der Computeringenieure genährt, vor allem aber durch Romane und Filme.

Eine der spektakulärsten Erscheinungen in dieser Hinsicht ist Dan Browns neuestes Buch »Origin«, das wochenlang auf dem ersten Platz der Spiegel-Bestsellerliste stand. Eine ultraintelligente Maschine ist von Anfang an Mitwirkende der Handlung. Sie zeigt sich zuerst nur als Stimme im Kopfhörer des Hauptprotagonisten des Romans. Sie gibt ihm kluge Tipps und organisiert, als er verfolgt wird, ausgeklügelte Fluchthilfen. Sehr geschickt kombiniert dieser Roman die Verkündung transhumanistischer Auffassungen mit einer spannend geschriebenen Handlung, bei der sich am Ende herausstellt, dass eine superintelligente Maschine die treibende Kraft hinter allen wichtigen Ereignissen war.

Alte Ideen

Die Idee, dass man ein künstliches Gehirn bauen könne, ist nicht neu. Schon 1943, als die ersten Computer entwickelt wurden, veröffentlichten der amerikanische Neurologe und Kybernetiker Warren McCulloch und sein Kollege Walter Pitts einen Aufsatz, in dem sie ein künst­liches neuronales Netzwerk beschrieben, das auf sehr vereinfachte Weise biologische Vorgänge des menschlichen Gehirns nachahmt.

Jede Nervenzelle des Gehirns ist mit vielen hundert anderen Neuronen durch Synapsen verbunden. Wenn diese Neuronen aktiv sind, wirkt sich dies ab einem bestimmten Schwellenwert auf die Nervenzelle aus, sie »feuert« – und wirkt dann ihrerseits wieder auf andere Neuronen ein.

Nach dieser Idee konstruierten McCulloch und Pitts eine künstliche »Nervenzelle«. Jede dieser Zellen ist mit den anderen technisch verschaltet. Wenn von den anderen Zellen elektrische Impulse ausgehen, werden diese von der Zelle registriert und zu einem Wert zusammengefasst, der seinerseits als ein elektrischer Impuls weitergegeben wird. Computerprogramme ahmen die logischen Strukturen des menschlichen Denkens nach, unabhängig von der Betrachtung der Hirnvorgänge. Im Gegensatz zu programmierten Rechnern bilden künstliche neuro­nale Netze nicht mehr die Gesetze der menschlichen
Logik ab, sondern gehen tiefer: Sie imitieren die Vorgänge, die sich im menschlichen Gehirn vollziehen, wenn der Mensch denkt.

Neuronale Netze imitieren die Hirnprozesse, die während des Denkens ablaufen. Das geschieht dadurch, dass sich die interne Gewichtung der Verbindungen der künstlichen Nervenzellen während des Trainings selbstständig verändert. Künstliche neuronale Netze werden daher nicht mehr von Menschen programmiert, sondern von ihm trainiert. Im Laufe von vielen Millionen Trainingsvorgängen passt sich das Netz an die vorgegebene Aufgabe immer besser an. Sobald das Training erfolgreich abgeschlossen ist, muss sich die Gewichtung im Prinzip nicht mehr verändern.

In ein neuronales Netz ist zwar außerordentlich viel menschliche Intelligenz eingeflossen, aber sie ist in ihm erstarrt. Ein neuronales Netz besitzt deshalb keine eigenständige Intelligenz. Es ist weder dumm noch klug, noch entscheidet es irgendetwas; das sind schlichtweg Begriffe, die auf dieses Gerät nicht anwendbar sind. Eine Mausefalle ist auch nicht klug, nur weil sie genau dann zuschnappt, wenn die Maus den Käse frisst. Die sogenannte Künstliche Intelligenz ist zwar durch menschliches Denken intelligent gemacht, aber sie denkt nicht selbst. Daher nochmals die Frage: Was ist Denken? Versuchen wir zu beobachten, wie durch Denken eine Vorstellung entsteht.

Vorstellendes Denken

Für die leiblichen Sinne ist Denken unsichtbar. Beobachten kann es nur, wer es selbst hervorbringt. Ich stelle mir beispielsweise einen Würfel vor. In meiner Vorstellung sehe ich seine zwölf Kanten, seine sechs Flächen und seine acht Ecken. Es braucht eine gewisse Anstrengung, die Vorstellung aufrechtzuerhalten. Ich sehe den Würfel als Bild, das vor mir steht. Wenn ich nun gleichzeitig versuche, die Tätigkeit meines Denkens zu beobachten, erlebe ich eine von mir weg gerichtete, zum Vorstellungsbild hin orientierte Kraft, die in der Vorstellung »Würfel« Gestalt annimmt. Die Vorstellung selbst ist fertig, vergangenheitsorientiert. Ich habe zwar ein klares Bewusstsein von dem Würfel, aber er ist bloß Bild: Ich kann keinen physischen Stein auf den vorgestellten Würfel stellen. Die Vorstellung ist »virtuell«. Ganz anders dagegen, wenn man versucht, den Willen zu beobachten.

Willenshaftes Handeln

Auf einem Regal steht ein Würfel aus Holz. Ich möchte ihn hochheben und woanders hinstellen. Die Absicht fasse ich sehr bewusst, aber sobald ich den Arm hebe, um sie zu realisieren, stelle ich fest, dass ich zwar den sich bewegenden Arm sehen und auch spüren kann – aber von dem eigentlichen Willensakt, der sich in der Tätigkeit der Muskulatur ausdrückt, habe ich kein Bewusstsein. Mit der Bewegung bin ich eins, ich bin diese Bewegung.

Im Vorstellen bewege ich mich zu den Dingen hin, im Willensakt dagegen in umgekehrter Richtung: Das Anheben des Holzwürfels geht vom Würfel aus zu mir hin. Es ist ja der Würfel, der meine Handlung leitet; seine Präsenz ist es, auf die meine Bewegung ausgerichtet ist. Der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty sagt: »Die Greifbewegung ist von Anfang an auf magische Weise an ihrem Ziel, sie beginnt nur mit der Antizipation ihres Endes.« So wie die Vorstellung immer auf Vergangenes hinweist, so die aktive Willenshandlung auf Zukünftiges.

Das Ende des Denkens und sein Anfang

Mit dem Denken erfasst der Mensch die gewordene Welt, er erkennt die Gesetze der Physik, der Chemie usw. Eine Formel ist geronnene Erkenntnis. Und aus diesen wiederum formt er seine Maschinen, bis hin zu den neuronalen Netzen. Wenn der Mensch die Gesetze der Logik erkannt hat, ist er auch fähig, sie in einer Maschine nachzubauen: Die programmierbaren Computer entstehen.

Mit den künstlichen neuronalen Netzen dagegen setzt der Mensch das, was er am menschlichen Gehirn erkannt hat, in technische Abläufe um. Technische neuronale Netze ahmen Gehirnprozesse nach.

Aber weder Computer noch neuronale Netze können denken. Sie sind Endpunkte des menschlichen Denkens – in Silizium kristallisiertes ehemaliges Denken.

Wo liegt also der Anfangspunkt des menschlichen Denkens? Die innere Beobachtung ergibt, dass die Entstehung einer Vorstellung in einem dem gewöhnlichen Bewusstsein unzugänglichen Bereich liegt. Wenn wir versuchen, zu beobachten, wie die Vorstellung entsteht, gelangen wir an einen Ort, an dem sich der Blick im Dunklen verliert. Es bedarf offensichtlich einer Bewusstseinserweiterung, um diesen »Ort« untersuchen zu können.

Steiner beantwortete die Frage nach dem Ursprung der Vorstellungen auf überraschende Weise: In der Vorstellung kommt derselbe geistige Prozess an sein Ende, der auch der Bildung des menschlichen Leibes zugrunde liegt. Vom Zeitpunkt der Konzeption an formt der Geist den Leib und das Gehirn; während er deren Form ausgestaltet, erstirbt er in ihnen. Der letzte Rest dieser geistigen Gestaltungskraft tritt als Vorstellungsbildung auf. Das lebendige Denken wird im Lauf der Kindheit und Jugend zum abstrakten Denken und als solches immer abhängiger von seiner leiblichen Grundlage. Mit zwölf Jahren etwa, wenn das Kind in die sechste Klasse kommt, ist sein Denken so weit entwickelt, dass es logische Strukturen allmählich begreifen kann. Daher beginnt in den Waldorfschulen der naturwissenschaftliche Unterricht (Physik, Mineralogie, Astronomie), der auf Logik und Beweise zurückgreift, ab der sechsten Klasse. Dann ergibt auch der verstehende Umgang mit digitalen Geräten einen pädagogischen Sinn.

Das außerleibliche lebendige Denken erstirbt im Menschenleib zum vorstellenden, schließlich zum abstrakten Denken. Baut der Mensch Maschinen, die dieses Denken nachahmen, stirbt der Leichnam ein zweites Mal: Die immerhin noch bewegliche menschliche Intelligenz kristallisiert in Geräten, die rein maschinell ablaufen – auch wenn sie nach außen hin Lebendigkeit vortäuschen.

Der Ausgleich

Im Willen beginnt etwas Neues – wo liegt sein Ende? Die Antwort Steiners: Im Leben nach dem Tod. Dort erst entfaltet sich das vom Menschen während des Lebens Gewollte zu seiner vollen Realität. So wie jede Vorstellung, jeder abstrakte Gedanke ein Zu-Ende-Gekommenes ist, ist jede Willensaktivität ein Neuanfang, ein Keim, der erst außerhalb von Raum und Zeit zu seiner vollen Realität findet. Wer sich bei einem schöpferischen Prozess selbst beobachtet, der bemerkt, dass er mit seinem Willen besonders tätig ist. Jeder kreative Prozess ist der Keim eines Neuanfangs. Wenn der Mensch phantasievoll nach Möglichkeiten sucht, etwas zu realisieren, dann ist sein Wille besonders aktiv. Dieser wird dann so stark, dass er die Vorstellungen verlebendigt, sie ihrem Ursprung wieder etwas annähert.

Durch die technischen Artefakte der digitalen Welt kann der Mensch bequem bleiben. Er muss sich nicht anstrengen, die Geräte erledigen vieles für ihn. Persönliche Assistenten wie Siri oder Alexa streben an, dem Menschen Vorschläge zu machen, bevor er überhaupt etwas will. Man kann sich heute von solchen Assistenten durch das Leben führen lassen.

Selbstbestimmte Persönlichkeiten, die die Welt mit- und vor allem umgestalten wollen, brauchen Phantasiekräfte, durch die sie Bilder entwickeln, wie die zukünftige Welt aussehen soll. Und sie benötigen Durchhaltevermögen, um ihre Vorhaben auch gegen Widerstände durchzu­setzen. Dazu brauchen sie einen starken Willen und ein reiches Gefühlsleben.

Pädagogik muss daher in besonderem Maße den Willen und das Gefühl der Kinder herausfordern, und sie an­regen, intensiv zu fühlen und selbstbestimmt etwas zu wollen. Gerade in den Waldorfschulen muss das Bewusstsein bei Eltern und Lehrkräften wach bleiben, wie wichtig die Gefühls- und Willensbildung in einer Zeit der Künstlichen Intelligenz geworden ist.

Denn nur durch ein reiches Gefühlsleben und einen starken Willen können Menschen dem Zugriff der selbstständig gewordenen Geräte standhalten. Dem in den Geräten »gefrorenen« Denken muss durch Engagement und Willensstärke ein in die Zukunft weisendes, kreatives Denken entgegengestellt werden. Diese Qualitäten werden am besten in den handwerklichen und künstlerischen Unterrichten geübt.

Zum Autor: Edwin Hübner ist Professor an der Freien Hochschule Stuttgart. Autor mehrerer Sachbücher zum Thema Medienerziehung.

Literatur:

R. Kurzweil: Das Geheimnis des menschlichen Denkens. Einblicke in das Reverse Engineering des Gehirns, Berlin 2014 | W. McCulloch, W. Pitts: »A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity«. In: Bulletin of Mathematical Biophysics (1943) | J. Raveling (2019): »Was ist ein neuronales Netz?« In: WFB t1p.de/tiea | T. Rashid: Neuronale Netze selbst programmieren. Ein verständlicher Einstieg mit Python, Heidelberg 2017 | G.D. Rey, K.F. Wender: Neuronale Netze. Eine Einführung in die Grundlagen, Anwendungen und Datenauswertung, Bern 2018 | D. Kriesel: Ein kleiner Überblick über Neuronale Netze. 2007 Download unter: www.dkriesel.com. | M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966