Der Bien. Bild für eine menschenwürdige Zukunft

Karsten Massei

Es ist offenkundig, dass die Imkerei eine anspruchsvolle Arbeit ist. Doch die Mühen werden durch besondere Erlebnisse belohnt. Man muss nur in die leuchtenden Augen eines Imkers schauen, wenn er von seiner Arbeit berichtet, von der Honigernte, vom Einfangen eines Schwarmes oder davon, wie er die jungfräuliche Königin tüten – so der Fachausdruck – gehört hat!

Und da ist noch mehr. Ich habe mit Imkern gesprochen, die unumwunden zugaben, die Bienen hätten ihr Leben gerettet. Ein älterer Mann erzählte mir, er habe als Verdingbub einzig bei dem Bienenvolk, das ihm der Meister überlassen hatte, Trost gefunden. Später hätte er immer Bienen gehabt. Manche Imker zählen die Bienen zu ihren wichtigsten Lehrmeistern. Sie hätten unbedingt zu ihrer charakterlichen Entwicklung beigetragen. Manchmal hat man den Eindruck, Imker verdanken den Bienen mehr, als sie mit Worten sagen können. Die Annahme, der Mensch stehe über den Tieren, konnte ich nie teilen. In früheren Zeiten wurden Tiere als Vermittler zwischen den Welten wahrgenommen, die dem Menschen zur Seite gestellt sind, um ihn auf seinem Weg auf der Erde zu begleiten. Man schaute zu ihnen auf, weil man fühlte oder wusste, dass in ihnen eine Weisheit lebt, die der Mensch mit den Kräften seines Bewusstseins nur schwer erreichen kann. Sie sind nicht wie er aus dem großen Lebenszusammenhang herausgefallen, sondern stehen mitten darin.

In jedem Tier lebt immer auch etwas, das über den Menschen hinausweist. Es zeigt ihm etwas von sich, das er auf seinem Weg zur Menschwerdung zurücklassen musste. Der Mensch erlebt sich als autonome und sich selbst bestimmende Persönlichkeit. Dadurch hat er den Zusammenhang mit dem Kosmos, der Natur, verloren. Den Tieren ist es nicht möglich, diesen Zusammenhang zu verleugnen, dafür ist ihnen aber auch nicht möglich, sich zu autonomen Wesen zu entwickeln.

Die Weisheit der Biene

Aus alten Zeiten der Imkerei stammt der Begriff »der Bien«. Damit wird dem Bienenstock, eigentlich dem Bienenvolk zugesprochen, dass es sich um ein eigenständiges Wesen handelt. Wer sich nun vor einen Bienenstock setzt, um das Treiben zu beobachten, wird von dem, was er sieht, tief berührt sein. Diese kleinen Tierchen fliegen aus, kehren mit Pollen beladen zurück, schlüpfen ins Dunkle des Stocks, sogleich kriechen andere wieder heraus und fliegen, ja stürzen sich hinaus. Ein besonderer Duft entströmt dem Stock, ein Summen umhüllt den Betrachter, er weiß eigentlich gar nicht, wie ihm geschieht, er fühlt sich wie verzaubert.

Gründe, von den Bienen fasziniert zu sein, gibt es viele. Einer liegt wohl in ihrem weisheitsvollen Zusammenleben. Jedes Bienenvolk besteht aus vielen tausend Insekten, die auf wundersame Weise zusammenarbeiten. Der Bien erscheint dem Betrachter als Gesamtorganismus, der sich entwickelt und vermehrt, der sich ernährt, der Vorräte anlegt und der Wärme hervorbringt. Woher weiß die einzelne Biene, woher weiß aber auch das Bienenvolk, was zu tun ist? Man fragt nach der Instanz, die für diese Zusammenarbeit verantwortlich ist. Ein Gehirn sucht man bei einem Bienenvolk vergebens. Man kann zu Recht fragen, mit was für einem »Wesen« man es zu tun hat, wenn man mit einem Bienenvolk umgeht.

Die Beschäftigung mit Bienen führt über kurz oder lang zu der Einsicht, dass wir mit unserem Verständnis erst am Anfang stehen. Obwohl man gerade in den letzten 150 Jahren viele Erkenntnisse über sie gewonnen hat, bleiben sie selbst dem erfahrenen Imker im Grunde fremde, geheimnisvolle Wesen.

Er weiß viel über sie, kennt ihre Zyklen, weiß, was er wann zu tun hat: Aber kennt er sie wirklich? Das Wesen der Bienen entzieht sich dem, der sich ihm nähern möchte. Je mehr man über das Leben der Bienen weiß, desto geheimnisvoller werden sie.

Aber da ist noch mehr. Von den Bienen geht etwas aus, dem sich der Imker nicht entziehen kann. Sie »sprechen« zu ihm auf eine Art, über die nicht leicht ist, Rechenschaft abzulegen. Eine Imkerin beschrieb, was hier gemeint ist, mit den Worten: »Wenn ich ein Volk öffne, kann ich das nur mit größter Behutsamkeit tun. Eigentlich habe ich das Gefühl, etwas Unrechtmäßiges zu tun. Eigentlich schaue ich wie in eine Seele hinein, nämlich in meine eigene.« Es stellt sich ein Gefühl von Demut und Verehrung ein.

Der Imker fühlt, dass die Bienen ihn an sein Heiligstes erinnern. Ein Imker berichtet, er sei in der Nacht mit dem Gefühl aufgewacht, seinen Bienen sei ein Unglück widerfahren. Wenig später hätte er entdeckt, dass eines der Völker mutwillig umgestoßen worden war. Oder ein anderer sah vor dem inneren Auge den Ort, wo der Schwarm, den er vor kurzem eingefangen hatte, stehen sollte. Wieder ein anderer erzählt, dass sich ein Schwarm bei ihm niedergelassen habe, und zwar in einer Lebensphase, in der er auf Trost angewiesen war. Ein Imker äußerte: »Wir müssen wieder lernen, neben den Bienen zu träumen. Sie wissen, was für sie am besten ist, was sie brauchen … man muss doch nur zuhören …«

Sprechende Völker

Worin besteht die Sprache der Bienen? Wie teilen sie sich mit und wie kann man sie lernen? Gerade in der heutigen Zeit, in der es um ihre Gesundheit gar nicht zum Besten bestellt ist, müssen wir uns dies fragen. Denn die herkömmlichen Maßnahmen greifen immer weniger. Wenn man sich als Imker auf das verlässt, was man gelernt hat, ist man oft genug verlassen. Wäre es nicht folgerichtig, die Bienen selbst zu fragen?

Das Bienenvolk spricht. Es tut das, wie jedes andere Wesen, zunächst auf eine äußere Weise dadurch, wie es sich uns zeigt, durch die Phänomene, die sich an ihm beobachten lassen. Das Bienenvolk zeigt dem aufmerksamen Beobachter eine Fülle von Lebensäußerungen. So bringt jedes Bienenvolk eine Reihe von heilenden Substanzen hervor, die jede für sich etwas Besonderes ist (Wachs, Honig, Propolis, Bienengift, Pollen). Jede dieser Substanzen ist mit erstaunlichen Fähigkeiten »begabt«.

Jedes Volk besteht aus drei verschiedenen Arten von Tieren: aus Arbeiterinnen, Drohnen und einer Königin. Obwohl es alle drei Wesen braucht, um ein überlebensfähiges Bienenvolk zu bilden, unterscheiden sie sich in ihrer Lebensweise vollständig voneinander und bilden dennoch zusammen eine Einheit. Den Arbeiterinnen obliegen die konkreten Substanzverwandlungen des Bienenvolkes, sie sind die Bienen, die man an den Blüten antrifft, die ein- und ausfliegen, die die bloße Existenz des Volkes sichern. Die Drohnen begatten die Königinnen. Dazu sammeln sie sich an bestimmten Plätzen in der Landschaft, den sogenannten Drohnensammelplätzen, die von den Jungköniginnen besucht werden. Die Königin vollbringt im Laufe ihres Lebens eine unglaubliche Leistung, indem sie über Jahre die Eier legt, aus denen alle Bienen ihres Volkes hervorgehen. Sie ist aber auch das Zentrum des Bienenvolkes, des Bien. Stirbt sie, stirbt das Volk, wenn es ihm nicht gelingt, eine neue Königin hervorzubringen.

Neben die Substanzen und die drei Bienenwesen kann man das Bienenjahr stellen. Die Entwicklung eines Bienenvolkes ist von den immer gleichen Gesetzen und Abläufen bestimmt. Dennoch »spielt« jedes Bienenvolk mit diesen Gesetzen auf seine Weise. Die Variationen, die dieses Urbild durch die einzelnen Völker erfährt, sind unerschöpflich. Der Imker wird deshalb von dem Verhalten seiner Völker immer wieder überrascht werden.

Das Bienenjahr ist durch bestimmte Ereignisse gekennzeichnet. Im Februar, während es draußen noch kalt ist und die Bienen nur selten Gelegenheiten finden, auszufliegen, beginnt die Königin schon die ersten Eier zu legen. Die Anlage der Brut geschieht, ohne dass der Imker etwas davon mitbekommt, denn er wird sich hüten, seine Völker jetzt in der Kälte zu öffnen. Er weiß, dass sie in der Zeit der Winterruhe keine Störung vertragen. Es kommen wärmere Tage und die Zeit der ersten Ausflüge. Mit der sich steigernden Blütentracht fängt das Volk an sich zu regen. Inzwischen legt die Bienenkönigin täglich viele Eier. Die ersten Jungbienen schlüpfen und lösen die Winterbienen ab, die das Volk durch die kalte Jahreszeit gebracht haben.

Im Mai hat das Volk in der Regel so eine Stärke erreicht, dass es mit dem Schwärmen beginnt. Die Arbeiterinnen haben längst Königinnenzellen angelegt, aus denen bald die nächste Königin schlüpfen wird. Die alte Königin schwärmt schließlich mit einem Teil des Volkes aus, verlässt die angestammte Beute und erhebt sich in die Luft, um ein neues Volk zu gründen. Nachdem der Schwarm aufgeflogen ist, hängt er sich recht bald an einen Ast ganz in der Nähe und bildet eine Schwarmtraube. Von dort machen sich Suchbienen auf, um einen geeigneten Hohlraum zu finden, den das Volk beziehen kann. Entdeckt der Imker die Schwarmtraube rechtzeitig, fängt er den Schwarm ein, indem er ihn vom Ast schüttelt und in einer seiner Bienenbeuten einlogiert. Sonst geht ihm der Schwarm verloren.

Die Bienen, die nicht schwärmen, bleiben in der Beute mit der Brut zurück. Bald schlüpft ihre Königin, die aber noch unbegattet ist. Nach einigen Tagen begibt sie sich auf den Hochzeitsflug, auf dem sie von Drohnen begattet wird. Danach beginnt sie mit der Legetätigkeit.

Nach Johanni ändert sich die Stimmung im Bienenvolk. Die Königin legt nun weniger Eier, wodurch die Anzahl der Bienen abnimmt. Das Volk bereitet sich langsam auf den Winter vor. Die Drohnen kehren nicht mehr zurück oder werden von den Arbeiterinnen aus dem Stock getrieben. Die zunehmend kalten Tage erlauben nur noch wenige Ausflüge. Das Volk sitzt auf den Honigvorräten, die für den Winter, in dem sie nicht sammeln können, reichen müssen. Es bildet die Wintertraube, in der sich die Bienen dicht aneinander kuscheln und stetige Wärme erzeugen, damit sie überleben. Diese Traube zieht während des Winters an dem in den Waben eingelagerten Honig entlang. Nur selten können die Bienen ausfliegen, ansonsten befinden sie sich in diesen Monaten in der Wintertraube. Diesem geschilderten Muster gehorcht jedes Bienenvolk, doch kein Jahr ist wie ein anderes. Anhand der geschilderten Phänomene (Substanzen, drei Bienenwesen, Bienenjahr) übt sich der Imker im Hören der Bienensprache. Doch das ist nur die Vorbereitung für das, was nun kommt. Denn keine Sprache kann man verstehen, ohne dass man sie verinnerlicht.

Einem Phänomen entlockt man seinen Sinn nur, wenn man auf die Wirkung zu achten beginnt, die es auf das eigene Seelenwesen ausübt. Jeder Eindruck, den die Sinne empfangen, hallt in der inneren Landschaft der Seele wieder. Jeder Eindruck ruft eine seelische Reaktion hervor. Indem der Beobachter diese achtsam wahrnimmt, fügt er seine innere Welt mit der äußeren, der sinnlichen im Erkenntnisprozess zusammen. Voraussetzung ist, dass man der Weisheit der eigenen Seele vertraut. Dadurch werden sich neue Erfahrungen aufschließen. Man wird zu Wesensberührungen kommen, die in der Seele des Menschen stattfinden. Die Sinne sind unbegabt dazu. Allein innere Sinne sind dazu in der Lage, einem anderen Wesen zu begegnen.

Indem man in dieser Weise die geschilderten Phänomene betrachtet, zeigt sich, dass die Substanzen, die die Bienen hervorbringen, für sie selbst wesentliche Bedeutungen haben. Sie haben nicht nur auf den Menschen heilende Wirkung (zum Beispiel in Form von Wachs, Honig, Propolis und Bienengift), sondern sie dienen auch den Bienen selbst, insofern sie durch diese Substanzen in der Lage sind, ihre Existenz zu bestreiten. Jede Substanz hat eine wesentliche Wirkung auf das Bienenvolk, die der Heilwirkung, die sie auf den Menschen haben, entsprechen.

Wenn man das Bienenjahr mit dem Seelenblick anschaut, erkennt man in den verschiedenen Stadien (Schwarm, Hochzeitsflug, Wintertraube) Äußerungen, die seelischer Natur sind. Durch sie drückt sich das Wesen des Bienenvolks seelisch aus. Diese Anschauung gibt dem Begriff Bien erst seine Bedeutung und Berechtigung.

Der Bienenweg

Möchte man zu dem Wesen der Bienen vordringen, weiß man nicht, wo man beginnen soll: beim Honig, bei der Königin, dem Schwarmprozess, beim Wabenbau? Jedes Detail ihres Lebens ist bedeutsam.

Doch man macht noch eine andere Erfahrung, wenn man sich lauschend dem Wesen der Bienen nähert. Es hat den Anschein, als würde eine tief verborgene Region der eigenen Seele auf die Begegnung mit den Bienen antworten.

Man begibt sich auf einen Weg, den man mit gewissem Recht den »Bienenweg« nennen kann. Der Imker geht diesen Weg, indem er die Bienen pflegt, – aber er geht ihn nur zu einem Teil, denn das Wesen der Bienen wird ihm, obwohl er mit ihnen umgeht, dennoch fremd bleiben, wenn er neben dem praktischen Umgang mit ihnen nicht einen erkennenden hinzunimmt. Man kann sich dem Wesen der Bienen auch innerlich, meditativ nähern. Man kann die Phänomene, die sich an ihnen beobachten lassen, seelisch und mit seinem Bewusstsein immer tiefer durchdringen und so dem Bienenwesen immer wieder neu begegnen.

In der Literatur findet sich immer wieder der Vergleich zwischen dem sozialen Leben der Menschen und der Ordnung, in der die Bienen eines Bienenvolkes zusammenleben. Dabei wird vergessen, dass es unter den Bienen keine Freiheit gibt. Die einzelne Biene ist nicht mit der menschlichen Individualität zu vergleichen. Die einzelne Biene ist ganz in den Naturprozess eingebunden, in dem das Bienenvolk lebt.

Ein Vorbild für die menschliche Gemeinschaft ist das Bienenvolk nicht, aber man kommt weiter, wenn man nicht die Gemeinschaft, sondern den einzelnen Menschen mit dem Bienenvolk vergleicht.

Dem imaginativen Blick zeigt sich, dass das Bienenvolk ein Bild für die Seele des Menschen ist, und zwar der seelischen Kräfte, über die der Mensch in Zukunft verfügen wird. Der Mensch schaut im Bienenvolk auf sich, aber nicht darauf, wie er jetzt ist, sondern wie er sein kann. Die beeindruckende Weisheit der Bienen ist so gesehen ein Wahrbild für die Zukunftskräfte des Menschen.

Das Wesen des einzelnen Volkes

Rudolf Steiner hat über kein Tier soviel gesagt wie über die Bienen. Folgendes Zitat ist besonders bemerkenswert: »Der Bienenvater versorgt dieses Jahr den Bienenstock, im anderen Jahr ist ein ganz anderes Bienenvolk darinnen, es ist ganz ausgetauscht bis auf die Bienenkönigin, es sind lauter junge Bienen drinnen. Wo soll da die Zusammengehörigkeitsempfindung entstehen? […] Die Zusammengehörigkeit beruht darauf, dass im Bienenstock eine ungeheure Weisheit lebt, es ist nicht nur dieses Häuflein einzelner Bienen, sondern der Bienenstock hat wirklich eine konkrete eigene Seele.« (GA 233, 30.12.1923)

Die Aussage, jeder Bienenstock besitze »wirklich eine konkrete eigene Seele«, kann einem zu denken geben. Darin gibt Rudolf Steiner einen deutlichen Hinweis darauf, was man unter dem Bien zu verstehen hat. Wir sind noch auf dem Weg, im Umgang mit den Bienen das umzusetzen, was diese Aussage enthält. Denn sie verändert, nimmt man sie ernst, das Verhältnis zu diesen erstaunlichen Tieren tiefgreifend.

Zum Autor: Karsten Massei erforscht seit vielen Jahren die Phänomene des Lebens mit den Methoden der übersinnlichen Wahrnehmung. Er ist Autor mehrerer Bücher, Seminarleiter und unterrichtet an einer heilpädagogischen Tagesschule in der Schweiz.