Der Fransenflügelforscher

Erziehungskunst | Herr Ulitzka, was brachte Sie dazu, einer solchen speziellen Passion nachzugehen?

Manfred Ulitzka | Seit meiner Kindheit war ich begeistert von Insekten und hatte mir bereits vor dem Biologiestudium ein umfassendes Wissen über diese Tiere angeeignet. Als Student hörte ich einen Vortrag, in dem »Fransenflügler« erwähnt wurden, Insekten, von denen ich bis dahin nie etwas gehört hatte. Das ärgerte mich so, dass es mich zu ausführlichen Recherchen antrieb. Dabei wurde mir klar, dass diese Tiere kaum erforscht waren, insbesondere auch keine ökologischen Erkenntnisse über sie vorlagen. So entstand die Idee einer Diplomarbeit zu dieser Thematik; später folgte eine Dissertation, in der erstmals die Arten unterschiedlicher Waldökosysteme ausführlich charakterisiert wurden. Damit hat eine Leidenschaft begonnen, die mich bis heute nicht loslässt.

EK | Sie waren auch viel im Ausland unterwegs – immer im Forschungszusammenhang?

MU | Finanziert über ein Post-Doc-Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, forschte ich drei Jahre in Zusammenarbeit mit dem Centre National de la Recherche Scientifique in Französisch-Guayana. Es ging dort zunächst auch wieder um Fransenflügler, insbesondere um Arten, die im Kronenraum des Regenwaldes leben. Dies bot mir die Möglichkeit mein damals intensives Hobby, das Klettern, mit der Forschungsarbeit zu verbinden. Mein Arbeitsplatz war nicht selten mehr als fünfzig Meter hoch über dem Boden, wo ich an Seilen hängend oder auf Ästen kletternd Insekten von Blüten absammelte. Später führte ich ebenfalls in Guayana jagdbiologische Studien im Auftrag der dortigen Forst- und Jagdbehörde durch. Es ging dabei um einen Vergleich der Jagd-Einflüsse großer, sesshaft-gewordener und kleiner, noch nomadisierender Indianer-Populationen auf das Ökosystem. Ich lebte dazu zwei Jahre bei Amazonas-Indianern vom Stamm der Wayana. Natürlich reise ich auch heute noch gern – Fransenflügler habe ich immer im Gepäck!

EK | Zurück in Deutschland ging es mit einer völlig anderen Arbeit weiter ...

MU | Zwei Jahre Falkner auf der Greifenwarte, Burg Guttenberg. Die Arbeit mit Adlern und Geiern wirkt zunächst faszinierend; die Shows sind eine Attraktion. Doch letztendlich wiederholt sich alles tagtäglich. Zudem taten mir die Tiere leid, die oftmals nur angepflockt waren und sich langweilten. Viel Freude machten mir hingegen die Flugvorführungen für Schulklassen.

EK | Und wieder kam ein völliger Wechsel: Ausbildung zum Oberstufenlehrer an Waldorfschulen. Wie kamen Sie dazu?

MU | Ich hatte an der Universität bereits Erfahrung in der Lehrtätigkeit gesammelt. Die Kombination aus Lehre und Forschung fand ich schon damals sehr reizvoll. An der Greifenwarte kamen beide Aspekte zu kurz, weshalb ich nach Veränderung strebte. In dieser Zeit stieß ich auf ein Inserat des Lehrerseminars Kassel und entschied mich wenig später für die Ausbildung zum Oberstufenlehrer für Waldorfschulen. Kassel gab mir eine gute Basis für die spätere pädagogische Arbeit. Allerdings merkte ich während der Praktika auch, wie unterschiedlich Waldorfschulen sein können. Manchmal zweifelte ich, ob ich auf dem richtigen Weg war. Zwei Praktika machte ich jedoch an der Offenburger Waldorfschule, wo ich mich von Anfang an wohl fühlte und wo glücklicherweise ein Oberstufenlehrer mit meiner Fächerkombination gesucht wurde.

Seit über zehn Jahren bin ich nun hier, unterrichte Biologie und Chemie, habe einige praktische Kurse etabliert und bin seit vielen Jahren in der Selbstverwaltung tätig, auch als Abiturbeauftragter. Die Fransenflügler hatte ich zwischenzeitlich – durch all die neuen vielfältigen Herausforderungen – nahezu vergessen.

EK | Haben Sie Ihre Entscheidung nach zehn Jahren als Oberstufenlehrer an einer Waldorfschule bereut?

MU | Nein, niemals. In der Regel freue ich mich tatsächlich jeden Morgen auf den Unterricht. Die Beziehung zu den Schülern ist etwas ganz Besonderes; ein Miteinander, das auf viel Vertrauen und gegenseitiger menschlicher Wahrnehmung basiert. Wertschätzung für einen Lehrer entsteht ja niemals durch Vorschriften, Evaluierungszwänge oder Notendruck, sondern durch dessen Kompetenz, Authentizität und Lebenserfahrung, die er in Unterrichtssituationen hineinträgt. Schüler lieben Geschichten; sie erzeugen die von Rudolf Steiner geforderten inneren Bilder und beleben tot und abstrakt wirkende Unterrichtsinhalte – auch in der Oberstufe.

Ich mag diese Situationen sehr, wenn ich Oberstufenschüler erlebe, die noch staunen können. Bald einhundert Jahre alt, aber immer noch modern und aktuell ist der mit keinem anderen pädagogischen System vergleichbare menschenkundliche und geisteswissenschaftliche Ansatz der Waldorfschulen, durch den wir die Jugendlichen altersgemäß erreichen. Eltern sind manchmal durch diese Art der Pädagogik verunsichert. Sie sehen die Oberstufe als Endspurt zu einem Abschluss und zweifeln dann, ob die musisch-künstlerischen und praktischen Fächer hier noch eine Berechtigung haben.

Betrachten müssen wir aber doch die jungen Menschen, die wir in die Welt entlassen: Neben fachlichen und sozialen Kompetenzen sollten die Schüler vor allem eine individuelle Persönlichkeit entwickelt haben, die ihnen die Fähigkeit und den Mut gibt, die Welt analytisch zu hinterfragen. Aus meiner Erfahrung, das zeigt auch das Gespräch mit ehemaligen Schülern, gelingt dies mit dem waldorfpädagogischen Ansatz.

EK | Wie holte Sie der Fransenflügler wieder ein?

MU | Ein Forscherteam aus Luxemburg, das auf meine früheren Publikationen aufmerksam geworden war, fragte 2010 an, ob ich Fransenflügler-Proben aus verschiedenen Waldgebieten bestimmen könnte. Ich wollte zunächst gar nicht. Meine Frau überzeugte mich schließlich, wieder in die Forschung einzusteigen. Aus heutiger Sicht war dies ein wichtiger Schritt. Einerseits weil es in Deutschland praktisch niemanden gibt, der diese Insekten weltweit überblickt, andererseits weil diese Kombination aus Lehrer und Wissenschaftler für mich selbst persönlichkeitsbildend wirkt.

EK | Rudolf Steiner empfahl, dass jeder Lehrer wissenschaftlich tätig sein sollte. Was denken Sie, wie kam er darauf? Können Sie das bestätigen?

MU | Rudolf Steiner war es ein großes Anliegen, dass die Schule modern und kreativ ist und einen Bezug zur Realität hat. Ist ein Lehrer gleichzeitig Forscher, so trägt er genau diese Aspekte ins Klassenzimmer. Zudem verkörpert man durch die forschende Tätigkeit auch »sein« Thema und lässt es authentisch und lebendig in den Unterricht einfließen – oft bestimmt sogar unbewusst. Natürlich bin ich aus Sicht der Schüler wohl auch manchmal der, der irgendwie ‘nen Knall hat. Aber letztlich wird doch genau der Enthusiasmus gefördert, den man als Lehrer braucht.

EK | Wie kommen Sie zu Ihren Entdeckungen?

MU | Entdeckungen können reine Zufallsfunde sein oder sie sind das Ergebnis einer gezielten Suche. Solche Zufallsfunde entstanden auch schon bei Exkursionen mit Schülern, wie zum Beispiel der Erstnachweis des Tylothrips osborni für Mitteleuropa in den heimischen Weinbergen oder der Fund von Tenothrips brevis, einer Art, die vor etwa vierzig Jahren entdeckt worden war, dann nie mehr auftauchte, und die ich letztendlich vor drei Jahren auf einer Klassenfahrt in Andalusien erneut nachweisen konnte. Wissenschaftlich reizvoller sind natürlich Beschreibungen von neuen, noch unbekannten und unbenannten Arten.

Ich habe einige rezente – also heute vorkommende – Fransenflügler aus ganz unterschiedlichen Erdteilen erstmals beschrieben. Mein Fokus in letzter Zeit liegt aber eher auf fossilen Arten, die in Bernstein eingeschlossen sind. Bernstein wird heute stellenweise industriell gefördert und Händler sortieren Stücke, die Fransenflügler enthalten, für mich aus, die ich dann gezielt kaufe. So steht oft schon im Vorfeld fest, ob eine neue Art zu erwarten ist. Momentan bin ich weltweit der einzige Forscher, der fossile Fransenflügler bearbeitet.

Ich habe bestimmte Techniken entwickelt, wie man die winzigen Bernsteineinschlüsse unter dem Mikroskop besser betrachten, fotografieren und letztlich auch bestimmen kann.

EK | Eine Ihrer Entdeckungen benannten Sie nach Ihrer Frau und überreichten ihr zur Hochzeit eine gerahmte Vergrößerung ...

MU | … ja, tatsächlich habe ich einen Rhipidothripoides juttae beschrieben, eine fossile Art, die meiner Frau Jutta gewidmet ist. Sie war es schließlich, die den Stein für mein wissenschaftliches Schaffen wieder ins Rollen brachte.

EK | Was fasziniert Sie an diesen winzigen Tieren?

MU | Fransenflügler sind den meisten Menschen unbekannt und selbst vielen Biologen nur deshalb ein Begriff, weil einige Arten als Pflanzenschädlinge in Erscheinung treten. Die meisten sind gerade einmal zwei Millimeter lang. Nur unter dem Mikroskop zeigen sie ihre ästhetischen Strukturen. Es sind jedoch vor allem biologische Aspekte, die diese Insekten faszinierend machen, wie zum Beispiel die Tatsache, dass sie sich seit der Kreidezeit praktisch nicht verändert haben. So kann man fossile Arten aus 120 Millionen Jahre alten Bernsteinen mit den heute lebenden in Beziehung bringen.

EK | Was ist das Besondere an diesen Tierchen?

MU | Auffällig sind zunächst einmal ihre langen Flügelfransen. Dieses Merkmal findet man aber auch bei anderen Insekten, es ist eine Anpassung an die geringe Körpergröße. Luft ist für so kleine Tiere ein zähes Medium, in dem sie mit ihren Flügeln »paddeln«. Einige Fransenflügler schwärmen bei schwülwarmem Wetter; in entsprechenden Regionen sind sie als die lästigen »Gewittertierchen« bekannt. Andere sind gefürchtete Pflanzenschädlinge, die leicht übersehen und mit dem Pflanzenhandel verschleppt werden; sie richten weltweit bedeutende wirtschaftliche Schäden an. Manche sind jedoch auch Nützlinge. Eines ist allen Arten gemein und kommt so bei anderen Insekten nicht vor: Sie haben asymmetrische Mundwerkzeuge ... sie müssten eigentlich »Schiefmäuler« heißen.

Weitere Infos unter: www.thrips-id.com | Die Fragen stellte Mathias Maurer.