Ausgabe 01-02/24

Der Innenraum öffnet sich

Hiltrud Kamolz

Es gibt kaum ein Handwerk, das älter ist als das Korbflechten. Bereits in der Steinzeit wurden geflochtene Körbe mit Lehm beschmiert und getrocknet. So entstanden die ersten Teller, Schüsseln und sonstige Gefäße. Weshalb aber sollte in unserem technologischen Zeitalter ein so veraltetes, vom Aussterben bedrohtes Handwerk noch unterrichtet werden? Ist es relevant für die Zukunft?

Im Fächerkanon der neunten Klasse erscheinen im Handwerksunterricht außer dem Korbflechten unter anderem Kupfertreiben und Plastizieren. Sie alle haben das Ziel der Gefäßbildung. Dabei entsteht ein Innenraum. Dieser Innenraum darf einen Schutz bieten in der Auseinandersetzung mit Sympathie und Antipathie und um diesen Innenraum geht es. «Wegen Umbaus geschlossen» ist eine gerne zitierte Charakterisierung der Jugendlichen während der Pubertät. Hinzu kommt, dass in diesem Alter eine grundlegende Reorganisierung des Gehirns stattfindet. Die Hirnforschung weiß längst, dass alles, was die Hände schaffen, sich auf die Strukturierung im Gehirn auswirkt. Beim Kleinkind beginnt das mit den Fingerspielen. Basteleien und Handarbeit führen die Entwicklung fort. Dabei wirkt die Tätigkeit der rechten oder linken Hand auf die jeweils gegenüberliegende Gehirnhälfte.

Die Hände eines Korbmachers sind markant. Allein das Flechten der ersten Runden des Korbbodens verlangt von Schüler:innen physische Kräfte, die erst ab diesem Alter verfügbar sind. Der Wille ist gefragt, so manche Blase an den Fingern zeugt davon, dass es um die Auseinandersetzung mit einem sehr festen Material geht.  

Bevor wir mit dem Flechten beginnen, erläutere ich den Schüler:innen, weshalb wir in der neunten Klasse Körbe aus Weiden flechten. Ich erzähle etwas über die Geschichte des Korbflechtens und über bestimmte Traditionen in anderen Völkern. Interessant ist zum Beispiel, dass bei manchen indigenen Gesellschaften ein Kind zur Geburt einen mit besonderen Mustern geflochtenen Korb bekommt. Dieser dient ihm dann sein ganzes Leben lang als Schale für den Maisbrei, nach dem Tod wird das Gefäß mit ins Grab gelegt.

Das Besondere an der alten Handwerkskunst des Korbflechtens ist, dass kein einziger Handgriff von einer Maschine übernommen werden kann. Zu viele komplizierte Handgriffe wechseln sich ab. Jetzt kann folgende soziale Frage aufgegriffen werden: Für einen schönen, großen Korb braucht auch ein Meister mehrere Stunden. Weshalb können wir dann so billige Körbe im Supermarkt bekommen? Wer stellt diese her und wo? Das Thema Kinderarbeit wird besprochen.

Körbe sind nachhaltig. Früher wurde alles in Körben verpackt, selbst der Hefewürfel. Die heutigen Kunststoffverpackungen sind wesentlich leichter und billiger. Wie aber werden diese entsorgt? Die Umweltfrage klingt an. Körbe können ein Leben lang halten und schenken uns am Ende noch etwas Wärme im Ofen.

Der Korbflechtunterricht tangiert wesentliche Sinne

Tatsächlich können Blinde Körbe flechten. Der Tastsinn spielt also eine große Rolle. Aber auch andere Sinne werden in Anspruch genommen. Die bis zu einer Woche eingeweichten ungeschälten Weiden geben einen markanten Duft, Wasser und Wärme spielen eine Rolle, sie biegsam werden zu lassen. Danach erzähle ich noch etwas über die Weiden als Pflanzen, dass die Rinde Salicylsäure (Wirkstoff im Aspirin) enthält, wir kauen dann auf einem Stück und schmecken es. Anschließend werden noch die wenigen benötigten Werkzeuge vorgestellt und auf die Sorgfalt der Auswahl zueinander passender Ruten hingewiesen.

Und jetzt beginnt die Arbeit. Zuerst wird für den Boden ein Kreuz aus acht dickeren Weidenendstücken hergestellt. Dieses wird durch Umflechten mit jeweils zwei Ruten mit enormem Kraftaufwand zu einem Stern geformt. Danach wird «aufgestakt», das bedeutet, dass 32 Weidenruten an entsprechenden Stellen liegend flach in den Boden hineingesteckt werden. Es entsteht eine große Sonne, oft mit einem Durchmesser von bis zu drei Metern. Dieser Schritt verlangt für etliche Schüler:innen eine Überwindung, denn jetzt liegt die Arbeit völlig offen und ausgebreitet im Raum. Wer diesen überraschenden Anblick aushält, kann nun den Fußring anbringen, der dem Korb später die entsprechende Standfestigkeit verleiht. Danach werden die Staken nach oben gebogen und zum ersten Mal ist ein Innenraum in Form eines Gerippes erkennbar. Der Fußring kann an dieser Stelle noch nachträglich angebracht werden, allerdings nicht mehr ganz so gleichmäßig wie am offenen Korb. Schüler:innen, die die offene Situation wenig aushalten, gebe ich diese zweite Möglichkeit. Danach kehrt Stille ein. Fast träumend lässt sich das zopfartige Geflecht mit drei Weiden hochwinden – das Wort Wand kommt übrigens von winden – das Gefäß, der Innenraum entsteht. Am liebsten hätten die Schüler:innen jetzt unendlich lange Ruten, aber es müssen immer neue angestückt werden. Es entsteht ein Ein- und Ausatmen: Dickes Ende der Weidenrute an dickes Ende, dünnes Ende an dünnes.

In den entstehenden Formen der Werkstücke werden die Temperamente der Schüler:innen erkennbar: Ein lockeres Geflecht in einer sich öffnenden Form kann auf das heitere Wesen der Sanguiniker:innen deuten. Choleriker:innen lieben den häufigen Einsatz des Schlageisens, um eine feste, gerade Form zu erlangen. Bei manchen Melancholiker:innen verschließt sich die Form, der ruhig vor sich hin arbeitende Phlegmatiker möchte so gar nicht mehr zum Ende kommen. Die Form kann aber immer willentlich geprägt oder verändert werden. Wenn dann alle vor sich hin flechten, beginnen so langsam die ersten vertraulichen Gespräche. Als ob keine Lehrkraft im Raum wäre, werden Sorgen, Freuden, Urteile ausgetauscht, Fragen formuliert. Der seelische Innenraum öffnet sich. Zuletzt erfolgt die etwas komplizierte Schlussrunde, bei der die hochstehenden Staken miteinander verflochten werden. Die Arbeit am Korb wird beendet mit dem Rückschnitt aller überstehenden Weidenreste. Das Werk ist nun fertig und wird von den Schüler:innen selber beurteilt. «Da hätte ich noch gleichmäßiger flechten können.» «Diese Beule hätte vermieden werden können.» «Kann das Loch noch gestopft werden?»
Es gibt aber noch genügend Zeit, einen zweiten und manchmal auch dritten Korb besser zu flechten, zufrieden ist man selten, denn der Blick wird durch einen Selbsterfahrungsprozess geschult.

Somit kann die Frage durchaus beantwortet werden, ob dieser Unterricht für die Zukunft relevant ist. Für die seelische Entwicklung der Heranwachsenden spielt er wie alle anderen künstlerisch-handwerklichen Unterrichte eine große Rolle und fördert in nicht zu unterschätzender Weise ein gesundes Heranwachsen in den bewegten Zeiten der Adoleszenz.

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