Ausgabe 09/23

Der Oder-Neiße-Radweg als Lebensschule

Stefanie Rühle-Knust
Stefanie Rühle

Am Meer im Sand einschlafen und sich von der Sonne wecken zu lassen – wer das einmal erlebt hat, vergisst es nicht. Die Schüler:innen der achten Klasse der Freien Waldorfschule Görlitz schliefen in Schlafsäcken bei Meeresrauschen unter dem weiten Himmel dank ihrer engagierten Lehrer:innen – am Ziel des 450 Kilometer langen Oder-Neiße-Radwegs.
Vater des Projekts ist der Deutsch-, Geschichts- und Klassenlehrer Andreas Gille, privat ein begeisterter Fahrradfahrer. Bei der monatelangen Planung der Radtour sei es auch darum gegangen, Ängste abzubauen. Laut Gille allerdings «in erster Linie bei den Eltern.» Die Schüler:innen seien entspannt an die Sache herangegangen – auch, wenn die meisten von ihnen wenig Fahrradpraxis hatten. «Das Einzugsgebiet unserer Schule ist groß. Die Schüler:innen kommen teils von weit her, vor allem mit Bussen und Bahnen, nicht mit dem Rad. Die meisten wohnen einfach zu weit weg.» Auch die Fahrräder waren von unterschiedlicher Qualität. «Manche hatten selbst eins, andere haben sich eins von Verwandten geliehen. Im Vorfeld haben wir aber alle zweimal durchchecken lassen», berichtet Gille. Am Ende waren aber immerhin 16 Schüler:innen – und ein Elternteil – startklar. Leider konnten aus gesundheitlichen und anderen Gründen nicht alle mitfahren.
Generell sei das Engagement der Eltern groß gewesen. Sie hatten Tour-T-Shirts für alle bedrucken lassen – mit den Etappen auf dem Rücken. «Wir haben die Shirts ständig getragen. Das hat den Teamgeist verstärkt», so der Klassenlehrer. Selbstverständlich sei Begeisterung und Energie für die Anstrengungen der Fahrt zunächst nicht gewesen. Denn nur 36 Stunden vor der Abfahrt hatten die Schüler:innen ihr Achtklassspiel aufgeführt. Nur der Sonntag war zur Erholung da, am Montag ging es zur Fahrradtour.
«Die erste Etappe war deshalb nur 25 Kilometer lang – zum Reinkommen. Übernachtet haben wir auf einem Zeltplatz in einem Freizeitpark», erzählt Gille. Die weiteren Etappen umfassten 65 Kilometer, die Empfehlung des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) für eine Tagesetappe liegt bei 50 bis 70 Kilometern. Sicherheitshalber war auch immer ein Begleitfahrzeug in der Nähe. Zwei Kolleg:innen wechselten sich mit dem Fahren des Autos ab. «Bei Schmerzen, kleinen Unfällen oder Unvorhergesehenem war es uns einfach wichtig, die Möglichkeit zu haben, Schüler:innen für eine Etappe nicht aufs Fahrrad zu lassen», erklärt der Lehrer die Vorsichtsmaßnahme.
Auf der Fahrt selbst habe sich dann schnell Routine eingestellt: «Fahrradfahren, Zelte aufbauen, Kochen, Essen und Tagebuchzeit. Das Tolle war, dass wir morgens um 9 aufgebrochen sind und um 15 Uhr immer bereits am jeweiligen Ziel waren», berichtet Gille. Am Anfang seien noch Smartphones aufgetaucht. «Die Schüler:innen sollten sie freiwillig zu Hause lassen. Manche hatten sie trotzdem dabei. Schlimm war das aber nicht: Wir haben viel gesungen – was sie am Anfang nicht cool fanden – und sind dabei zusammengewachsen. Die anfangs belächelte Gitarre, die eine Kollegin dabei hatte, wurde abends am Lagerfeuer zum echten Magneten. Irgendwann haben sich die Schüler:innen lieber miteinander als mit Handys beschäftigt. Stundenlang haben sie gespielt und als Gruppe intensive Erfahrungen gemacht», schwärmt der Lehrer.
Auch die Route schlug Gille mit seiner Klasse in den Bann: «Der Weg hatte keine nennenswerten Steigungen und war zauberhaft schön. Die Neiße ist ein kleines, naturnahes Flüsschen, das uns neben dem Radweg begleitete, bis es in die Oder mündete.» Auch diese war laut Gille, entgegen jüngster Berichte zum Fischsterben, zum Glück sehr naturnah. «Wir konnten Reiher beobachten, Kraniche und Raubvögel.» Auch das Wetter spielte mit: «Nur in einer Nacht am Anfang hatten wir minus zwei Grad. Da haben alle in ihren Schlafsäcken gefroren. Wir hatten meistens Rückenwind, nur bei zwei Etappen mussten wir uns ziemlich quälen.»
Bei allen Hürden zog bei der Klasse eine Verheißung ganz besonders: «Wir hatten den Schüler:innen zur Belohnung nach der Hinfahrt drei Tage am Strand versprochen, in denen sich alle frei beschäftigen und chillen konnten.» Diese Tage wurden für alle zum Highlight. «Wir haben direkt hinter den Dünen im Wald gezeltet, das war wunderschön», schwärmt der Pädagoge heute noch. «Die Schüler:innen hatten Zeit, herumzutollen. Fast alle haben am Ende ihre Schlafsäcke an den Strand geholt. Dort sind wir im Sand eingeschlafen und haben uns von der Sonne wecken lassen.» Derart entspannt war auch der Rückweg nach Görlitz kein Problem.
Dort gab es einen Elternabend, bei dem das Klassenspiel ebenso präsentiert wurde wie die zehntägige Fahrradtour. Das Fazit laut Gille: «Die Eltern berichteten, dass alle Kinder sehr verändert seien und es viel soziale Bewegung gab». Die Schüler:innen seien «gestärkt in ihrer Persönlichkeit. Seit ihrer Rückkehr sind sie auch sehr viel klarer im Argumentieren.»
Gilles Resümee fällt deshalb rundum positiv aus: «Es ist in dieser Altersklasse sehr wichtig, an die eigenen Grenzen zu kommen. Die Herausforderungserfahrung ist einer der Hintergründe des Projekts. Das ist auf ganzer Linie gelungen». Es habe fast niemanden gegeben, der nicht irgendwann an seine Grenze gekommen sei «und das Fahrrad in die Büsche werfen wollte». Umso mehr freut es ihn, dass alle trotzdem durchgehalten haben. Das Begleitfahrzeug sei tatsächlich nur nebenhergefahren – und nicht als Taxi missbraucht worden. «Ein Mädchen hatte einmal starke Knieschmerzen», berichtet der Lehrer. Trotzdem meinte sie: «Und wenn es mir noch so dreckig geht – ins Auto setze ich mich nicht».
Für die nächsten Jahre sind laut Gille weitere Radtouren fest geplant. «Wie sich das umsetzen lässt, hängt natürlich auch von den Klassenlehrer:innen ab. Ich bin jetzt seit rund 30 Jahren dabei. Eins weiß ich daher sicher: Es bleibt spannend.»

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