Ausgabe 11/25

Detektivarbeit

Anne Brockmann

Eine psychologische Metapher saft aus, dass in jedem Erwachsenen gleichzeitig auch noch das Kinder vorhanden ist, das er einst war.


Es ist ein warmer Tag Anfang August. Eine Mutter und ihre 17-jährige Tochter sitzen in der Therapie bei Muriel Kehrmann (Name von der Redaktion geändert), Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche. Mutter und Tochter wollen demnächst zusammen verreisen und mit der Therapeutin herausfinden, wie der Urlaub trotz ihrer schwierigen Beziehung gelingen kann. Was, wenn sich die Tochter im Urlaub selbst verletzt? Oder kifft? Oder lebensmüde Gedanken hat? Daran wollen sie heute arbeiten. Es dauert aber nicht lange, da wippt die Tochter auf ihrem Suhl nur noch vor und zurück und knibbelt an der wunden Haut ihrer Fingernägel. Die Mutter redet auf sie ein. Macht Vorwürfe, ist fixiert auf Vorkommnisse, die längst vergangen sind. Solange, bis beide schreien. Und schließlich weinen.

«Die Konfrontation mit möglichen Schwierigkeiten hat beiden Stress bereitet. Und unter Stress neigen Menschen dazu, zu regredieren, also auf frühere, mitunter kindliche Verhaltensweisen zurückzugreifen. Irgendwann hatte ich nicht mehr eine Erwachsene und eine Heranwachsende vor mir, sondern eher zwei Kinder, die eine Stresssituation überfordert», erklärt Kehrmann. Ursachen für eine sogenannte Regression sind oftmals ein hohes Stresslevel, emotionale Belastungen oder traumatische Erlebnisse. Der Rückbezug auf frühere Entwicklungsstufen gibt dann eine scheinbare Sicherheit und mildert die innere Anspannung.

Einfrieren, um weiterzukommen


Formen regressiven Verhaltens sind beispielsweise Trotzreaktionen, übermäßiges Weinen, Daumenlutschen oder Schaukeln mit dem Oberkörper, Hilflosigkeit bis hin zur Handlungsunfähigkeit. Jüngere Kinder etwa, die eigentlich schon trocken sind, nässen nach der Geburt eines Geschwisterkindes wieder ein. «Schwere traumatische Erlebnisse können sogar dazu führen, dass ganze Persönlichkeitsteile in einem bestimmten Stadium zurückgelassen werden. Sie frieren gewissermaßen ein, weil es für die gesamte seelische Entwicklung zu belastend wäre, ständig mit diesen Anteilen und ihren Erlebnissen umgehen zu müssen», erklärt Expertin Kehrmann. Während große Teile der Persönlichkeit sich also weiterentwickeln, verharren manche einfach auf bestimmten Stufen. In der Regel treten sie später als Reaktion auf bestimmte Reize, sogenannte Trigger, in Erscheinung und sind zunächst oft schwer zu handhaben, weil sie eine Art Eigenleben führen – losgelöst vom Rest der Persönlichkeit. «Das mag einem seltsam vorkommen, ist aber eine absolut sinnvolle Reaktion der Psyche auf überwältigende und extrem belastende Erfahrungen. Das Trauma wird mit einem Teil von uns an den Rand gedrängt, versteckt, abgespalten, damit wenigstens der Rest mehr oder minder unbehelligt weiterziehen kann. Nur sollte dieser Teil irgendwann versorgt und integriert werden», führt die Fachfrau weiter aus. Andernfalls könnte das Eigenleben, das er führt, zum Problem werden. Oft ist es weder für Psycholog:innen noch für Betroffene leicht, einen Zugang zu diesem Anteil zu bekommen.

Was wird beschützt?


Die entscheidende Frage lautet für die Therapeutin immer: Was wird durch dieses Verhalten beschützt? Was in der Mutter wird beschützt, wenn sie ihre Tochter anschreit und dabei selbst so haltlos wie eine Fünfjährige wirkt? Kehrmann folgt mit dieser Fragehaltung dem 2005 verstorbenen Psychotherapeuten Klaus Grawe, der als Professor auch in Forschung und Lehre tätig war. In seiner sogenannten Konsistenztheorie hat Grawe vier psychologische Grundbedürfnisse herausgearbeitet, die Menschen unbedingt zu schützen versuchen: Bindung, Orientierung und Kontrolle, Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz, Lustgewinn und Unlustvermeidung (siehe Infokasten). 

«Würde die Mutter die Ursachen für die Probleme ihrer Tochter nicht bei ihr suchen und entsprechende Vorwürfe machen, landete sie möglicherweise bei sich selbst und bei dem Gedanken, ihre Mutterrolle nicht gut auszufüllen. Das wiederum würde vermutlich ihren Selbstwert gefährden, den ich ohnehin als eher gering wahrnehme», versucht sie die Dynamik zwischen ihren beiden Klientinnen zu erklären. Die Mutter schützt also ihren Selbstwert, indem sie die Probleme allein bei der Tochter sucht. Das sei zwar nicht unbedingt konstruktiv, aber nachvollziehbar und ein möglicher Ansatzpunkt, meint Kehrmann. Es gilt also, zunächst das Grundbedürfnis der Mutter nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz zu stillen, damit sie in ihrem «Steuerungs-Ich» bleiben kann, wie die Expertin es nennt, und nicht in trotzige Muster zurückfallen muss, um dort Sicherheit zu finden. Erst dann wird sie vermutlich in der Lage sein, sich fruchtbar in die Urlaubsplanung einzubringen. Den jeweils richtigen Ansatzpunkt zu finden, gleiche für Kehrmann manchmal «einer echten Detektivarbeit».

Über Hürden zu besonderen Fähigkeiten


Das Gegenstück zur Regression ist die Parentifizierung. Sie beschreibt eine Rollenumkehr in Familien, bei der Kinder Aufgaben und Verantwortung übernehmen, die für gewöhnlich den Eltern obliegen. Ein Neunjähriger etwa, der seine drogenabhängige Mutter jeden Tag in die Substitutionspraxis begleitet und ins Ukrainische übersetzt, dass sie heute lediglich eine Mindestdosis ihres Substituts bekommt, weil sie zu viel Alkohol im Körper hat. Der dann auch noch schaut, dass sie pünktlich sind, ein Ticket für die U-Bahn haben und auf dem Rückweg etwas fürs Mittagessen einkaufen. «Es ist erstaunlich, wozu Kinder imstande sind und was sie alles managen können, wenn es nötig ist. Und doch stellt solch eine Verantwortung eine emotionale und entwicklungspsychologische Überforderung dar. Weil sie das Familiensystem um jeden Preis stützen und aufrecht halten wollen, vernachlässigen sie eigene altersspezifische Entwicklungsaufgaben», sagt Kehrmann. Aber genau wie bei der Regression findet sie auch hier: Solche Mechanismen müssen nicht im Erwachsenenalter zu schweren Krankheiten führen. Auch und gerade aus derlei schwierigen Bedingungen des Aufwachsens könnten große Stärken entstehen.

«Letztlich geht es immer um eine größtmögliche Balance. Darum, Zurückgebliebenes und Abgespaltenes nachträglich zu versorgen und zu integrieren; darum, Grundbedürfnisse zu erkennen und zu stillen und darum, Einseitigkeiten auszugleichen. Wenn das gelingt, waren Regression und Parentifizierung am Ende bestenfalls Hürden auf dem Weg zu ganz besonderen Fähigkeiten», mutmaßt Kehrmann.


Die vier psychologische Grundbedürfnisse nach Grawe 
 

Das Bedürfnis nach emotionaler Nähe, Zuwendung und sozialer Integration fasst er unter dem Begriff Bindung zusammen. Den Wunsch, das eigene Leben und die Umwelt zu verstehen und selbstständig gestalten zu können, unter den Begriffen Orientierung und Kontrolle. Das Bestreben, sich als kompetent und wertvoll wahrzunehmen, und gleichzeitig negative Selbsteinschätzungen zu vermeiden, subsumiert Grawe unter Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz. Und den natürlichen Antrieb, angenehme Erfahrungen zu suchen und unangenehme Situationen zu meiden, überschreibt er mit Lustgewinn und Unlustvermeidung. Nach Grawe sind diese vier Grundbedürfnisse die zentralen Motivatoren menschlichen Verhaltens. Menschen entwickeln Schemata, um sie zu befriedigen und vor Schaden zu bewahren. Werden die Grundbedürfnisse über einen längeren Zeitraum hinweg nicht erfüllt oder blockieren Schemata sich gegenseitig, kommt es zur sogenannten Inkonsistenz. Es klafft also eine Lücke zwischen Grundbedürfnissen und Realität, was zu inneren Widersprüchen, negativen Emotionen bis hin zu psychischen Erkrankungen führen kann.

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