Der Morgen graut, die Sonne steigt empor, ein neuer Tag beginnt. Wenn die ersten Sonnenstrahlen höher klettern, öffnet sich das Tor zum Garten und eine Gruppe Kinder tritt ein.
Kian sammelt die Eier aus dem Hühnerstall, als wären es kleine Schätze. Roya füllt die Schalen für die Tiere mit Obstresten auf, die von zu Hause mitgebracht wurden. Maryam bleibt unter einem Apfelbaum stehen, prüft die Früchte und pflückt eine strahlend rote. Mohammad sitzt auf der Schaukel, spürt den Wind im Gesicht und lässt für einen Moment die Welt stillstehen.
Wenig später werden im Klassenzimmer Früchte in einen Obstkorb gelegt, die die Kinder von zu Hause mitgebracht haben – ein Symbol des Teilens. Jedes Kind findet seinen Platz, während die Lehrerin einen Korb mit duftenden Rosen und Minze, die frisch aus dem Garten gepflückt wurden, neben eine Kerze stellt. Leise wird ein Lied angestimmt.
Ein besonderer Garten als Lern- und Lebensort
Durch unseren Garten, der am Rand einer Großstadt im Herzen des Iran liegt, sind heute etwa hundert Menschen tief miteinander verbunden – Kinder, Lehrer:innen, Eltern und Mitglieder des Verwaltungsteams. Sie alle haben den Traum von einer freien ganzheitlichen Pädagogik, die eine gesunde Entwicklung der Kinder ermöglicht.
Es begann im Jahr 2017: zwei Lehrerinnen, eine Erzieherin und eine Gruppe von Eltern kamen zusammen. Darunter war auch ich. Oft hatten wir unser Bildungssystem kritisch hinterfragt, weil es aus unserer Sicht einen beträchtlichen Teil der Vielfalt ausklammert – sei es in Bezug auf Geschlecht, Religion, Kultur oder die individuelle Art des Seins . Kinder haben kaum die Möglichkeit, sich selbst zu entdecken. Sie werden in ein vorgefertigtes System gezwungen, das hohe kognitive Leistungen fordert und darauf vorbereiten soll, in der Gesellschaft zu funktionieren.
Wir hingegen wollten den Menschen im Mittelpunkt sehen, verstehen und herausfinden, was ein Kind wirklich für seine Entwicklung braucht. So begaben wir uns auf die Suche nach alternativen Bildungssystemen weltweit. In Kursen an den Universitäten im Iran gab es Einführungen in verschiedene alternativ-pädagogische Konzepte. Keines konnte uns überzeugen – bis wir auf Waldorf stießen. Wir begannen, Artikel über Waldorfpädagogik zu lesen. Je weiter wir in die Materie eintauchten, desto größer wurde unser Interesse. Aber bis dato gibt es keinerlei Literatur auf Farsi, sodass wir noch immer mit Übersetzungen arbeiten müssen. Schließlich entschieden wir, dass eine von uns nach Deutschland reisen sollte, um die Waldorfpädagogik aus erster Hand zu erleben und zu verstehen und zu sehen, wie sie in der Praxis funktioniert. Diese direkte Erfahrung war wie das Öffnen eines Vorhangs: viele unserer Fragen wurden beantwortet.
Während eine Kollegin aus unserem Kreis ihre Ausbildung zur Waldorferzieherin in Berlin abschloss, führten die Corona-Maßnahmen dazu, dass viele ihrer Kurse online stattfanden. Das nahmen wir zum Anlass, die Dozent:innen zu bitten, weitere Kurse für Interessierte im Iran zu geben. So vertiefte ein kleiner Kreis allmählich seine Kenntnisse und ab dem Frühjahr 2022 begannen wir, eigene Kurse zur Waldorfpädagogik in Präsenz im Iran zu organisieren. Mit der Unterstützung von Erzieher:innen und Dozent:innen aus Deutschland konnten wir nachhaltige Erfahrungen im Gespräch und im künstlerisch-praktischen Tun sammeln. Bis heute haben über 400 Erzieherinnen aus dem gesamten Land an den verschiedenen Online- oder Präsenzkursen teilgenommen, die wir zusammen mit Dozent:innen aus Deutschland in Anlehnung an den Ausbildungsplan der International Association for Steiner/Waldorf Early Childhood Education (IASWECE) gestaltet haben.
Inzwischen hat unsere Initiative den Status der offiziellen Anerkennung durch die IASWECE erhalten und wird in der Weltliste der Waldorfeinrichtungen geführt. Damit war der Moment gekommen, unser Wissen in reales Tun zu übertragen. So begann die Arbeit in unserem Garten im Sommer 2022. Im Laufe von fast drei Jahren wurden Wasser, Strom und Gas eingerichtet und wir haben ein Haus mit drei Klassenräumen erbaut. Einen teilen sich Kindergarten und erste Klasse, die jeweils nur drei Tage pro Woche in den Garten kommen. Die zwei weiteren Räume nutzen die Klassen 2 bis 5, die vier Tage pro Woche hier sind. Obwohl wir nicht genug Räume für alle Klassen gleichzeitig haben, schaffen wir es auf diese Weise, allen Kindern die Möglichkeit zu geben, an diesem besonderen Ort zu lernen und zu leben.
Ein Klassenzimmer ist für uns kein gewöhnlicher Raum mit vier Wänden, in dem sich zufällig Kinder und ein Lehrer begegnen. Es ist ein heiliger Ort – ein Land, in dem die Seelen einander begegnen, mit Würde und von besonderer Bedeutung. So ist unser Ort mit den drei Klassenzimmern und dem Garten ein Lern- und Lebensort geworden, an dem Menschen gemeinsam wachsen und gedeihen können.
Alles, was wir aus der Waldorfpädagogik schöpfen, flechten wir Schritt für Schritt in unsere lokale Kultur ein – getragen von einem tiefen Respekt für unsere eigenen Wurzeln. Ein Teil unserer ursprünglichen Kultur waren die nationalen Feste und Rituale, die heute am Rande des Vergessens stehen. Uns war wichtig, nicht einfach die äußeren Formen von Festen aus anderen Ländern zu übernehmen. Stattdessen tauchten wir in die Geschichten und Bedeutungen unserer eigenen Rituale und Traditionen ein. Wir entdeckten ihre verborgenen Werte, brachten diese wieder zum Leuchten und feierten sie so, dass sie im Einklang mit der Kultur unserer Gemeinschaft standen.
Danach öffneten wir uns für die kulturellen Gemeinsamkeiten mit anderen Gesellschaften. Wir sahen die Vielfalt, die uns umgab und bemühten uns, die Menschenerkenntnis als unseren Verbindungspunkt mit der Welt zu nehmen – auf unserem Weg zu einem globalen Frieden. Alles, was wir tun und aufgebaut haben, wurde nur möglich auf Basis von Spenden und gemeinsamer Arbeit mit Eltern und Familien. Wir erlebten hautnah, wie stark der Wille eines Menschen wird, wenn er eine alternative Lebensweise wählt – eine Lebensweise, für die es in der Gesellschaft keine vorgefertigten Antworten gibt. Die Kosten für den Garten sowie dessen Ausbau und Weiterentwicklung wären ohne die Unterstützung der Eltern nicht zu tragen gewesen. Die Kinder waren nicht nur stille Beobachter, sondern aktive Mitgestalter. Sie träumten von ihrer Schule, zeichneten Baupläne für die Klassenzimmer oder trugen auf der Baustelle kleine Sandsäcke.
Trotz politischer und wirtschaftlicher Herausforderungen – einer Inflation von 41 Prozent, dem Mangel an ausgebildeten Fachkräften und vieler weiterer Hürden – sind wir weit gekommen.
Aber: Diese Gemeinschaft, die wir mit harter Arbeit aufgebaut haben, steht nun vor großen Schwierigkeiten. Der Garten, der uns für unseren Traum aufgenommen hat, soll verkauft werden. Bis jetzt konnten wir ihn mieten. Um unsere Zukunft darin zu sichern, wollen wir ihn aber kaufen. Daher bitten wir um Ihre Spende. Jeder noch so kleine Betrag trägt dazu bei, dass unser Traum weiterleben kann. Wenn ich aus dem Fenster des Klassenzimmers nach draußen blicke, fällt mein Blick auf die Erstklässler:innen. Sie knien auf dem Boden und legen mit Kiefernzapfen das Wort بآ (Aab) für »Wasser« in die Erde – in Farsi das erste Wort mit zwei Buchstaben, das sie heute gelernt haben.
Spenden können überwiesen werden an:
Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V.
IBAN: DE47430609670013042010 BIC: GENODEM1GLS
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