«Es war einmal ein König. Der hatte einen weißen Rauschebart ...» Die meisten von Ihnen haben jetzt vermutlich eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wie dieser König angezogen ist, welche charakterlichen Attribute er hat und wie er sich benimmt. Die meisten in Deutschland sozialisierten Menschen sind mit den Märchen der Gebrüder Grimm aufgewachsen. Jene Geschichten und ihre Bilder prägen in vielerlei Hinsicht unsere Vorstellungen von Prinzen, Stiefmüttern und Bösewichten. Was aber, wenn der gestiefelte Kater durch eine Katze ersetzt wird? Trägt diese High-Heels oder die Stiefel der Müllerstochter, einen Hut mit Spitze oder doch den mit d’artagnonesquer Krempe und läuft sie auch mit einem Degen durch die Gegend? In den letzten Jahren gab es immer mehr Buchveröffentlichungen, die Geschlechterrollen in Erzählungen infrage stellen. Und das auch in klassischen Märchen. Dabei ist die Analyse von Märchen in Literaturwissenschaft, Germanistik und europäischer Ethnologie schon seit der Entstehung dieser wissenschaftlichen Disziplinen ein komplexer Arbeitsbereich, der noch immer nicht ausgeschöpft ist.
Überzeitliches versus Kontext
Die Quellen sogenannter Volksmärchen gehen bis zu 6.000 Jahre zurück und wurden in oraler Tradition, also mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Zwar spielen Märchen in einer überzeitlichen, nicht genau einordbaren, meist an das Mittelalter anmutenden Zeit («Es war einmal…»), die Erzählungen wanderten jedoch durch viele unterschiedliche Epochen und Gesellschaftsformen. Mit jeder Überlieferung wurde etwas verändert. Gesammelt und aufgeschrieben von den Grimm-Brüdern wurden sie erst Anfang des 19. Jahrhunderts in der Zeit der Aufklärung und der Romantik, als die meisten mittelalterlichen Burgen schon längst Ruinen waren und Menschen sich mit verklärten Bildern nach einer ursprünglichen, mystifizierten Vergangenheit sehnten. Wie so viele Geschichten erzählen Märchen direkt wie indirekt etwas über gesellschaftliche Normen und Werte, über die Zeit, zu der sie entstanden sind beziehungsweise dokumentiert wurden und in der sie mutmaßlich spielen. Alte deutsche Märchen und Sagen bieten deshalb reichlich Material für die Analyse von Geschlechterrollen und bieten im Hinblick auf ihre Gültigkeit heutzutage auch reichlich Diskussionsstoff. Neben zeitlos-universellen Botschaften stehen nämlich auch solche, die für heutige Leser-und Zuhörer:innen oft nicht mehr zeitgemäß sind, da sie die Vielfalt und Gleichheit der modernen Gesellschaft nicht widerspiegeln können.
Männliche Protagonisten sind häufig (aber nicht immer!) mutig und stark: «Der Dummling, der nicht so ängstlich war, fasste das Mädchen an und führte es sicher durch den Wald.» (Die goldene Gans) Die weiblichen Hauptfiguren werden oft als schön, häuslich und passiv dargestellt: «Das schöne Mädchen musste alle schweren Arbeiten im Haus verrichten» (Aschenputtel) oder «Sie war so treu, dass sie nicht einmal sprechen konnte» (Die zwölf Brüder). Diese Rollenverteilungen erzählen uns viel über die damaligen gesellschaftlichen Normen und Strukturen, in denen Männer Beschützer und Versorger waren, Frauen häusliche und fürsorgliche Rollen innehatten. Laut Alexander Hassenstein, Mitarbeiter der Pädagogischen Forschungsstelle und Forschender zu Bildern und Geschlechterrollen in Geschichten, liegt die tiefere Bedeutung von Märchen vor allem in Symbolen und Archetypen, die sich hinter den Märchenfiguren verbergen. Dort gehe es beim Weiblichen oder Männlichen nicht etwa um das soziale Geschlecht, also Prinzessin ist weiblich mit bestimmten weiblich gelesenen Attributen, wie zum Beispiel schön und häuslich, sondern um Ur-Bilder, um Prinzipien und um eine gewisse «Formensprache», die alles Lebendige betrifft. Insofern lasse sich beispielweise die Eizelle, dem «gebärenden Geschlecht angehörend», als weiblich bezeichnen und mit ihr die Eigenschaften rund, geschützt, isoliert, ohne eigene Fortbewegung, gleichzeitig aber bereits jene Materie, woraus nach der Befruchtung Neues entsteht. Das Männliche gehöre in diesem Bild den Eigenschaften der Samenzelle oder der Pollen an. Diese sind «winzig, […] bewegen sich selbst fort» und sind angewiesen auf ein Transportmittel (Wind, Insekten, Sperma). Pollen haben laut Hassenstein darüber hinaus oft ein hartes Äußeres, deren Kraft sich nur in Zusammenkunft mit der Samenanlage der Blüte entfaltet. Aus dieser Perspektive sei keine Frau nur weiblich, kein Mann nur männlich, weil jeder Mensch aus der Verschmelzung von weiblich und männlich entstanden ist. Jeder Mensch, egal ob weiblich, divers oder männlich, besäße jene dualen Eigenschaften. Dementsprechend soll das schlafende Dornröschen nicht eine Repräsentation der Frauen in der Welt sein, die allesamt passiv und häuslich sind, beziehungsweise sein sollen, sondern es gehe dabei um etwas «Seelisches, das zum Ausdruck gebracht werden soll», und das durch die Darstellung urbildhaft weiblicher Züge passend erscheint.
Umkrempeln in der Praxis
«Bitte noch einmal der Prinz auf der Erbse», rufen die drei stürmischen Jungs aus Sophie Leenders erster Klasse, die eigentlich nie Märchen hören wollen. Die Lehrerin fing gleich zu Beginn ihres Lehrerinnendaseins an der Dortmunder Waldorfschule an, ihren Erstklässler:innen unter anderem «umgekrempelte Märchen» zu erzählen. Inspiration dafür bot ihr die Märchensammlung Der Prinz auf der Erbse von Karie Fransmans und Jonathan Plancketts, in der die Autor:innen sämtliche Geschlechterrollen in klassischen Märchen wie Aschenputtel und dem Gestiefelten Kater umdrehten. «Mir war es immer wichtig, die Urbilder der Märchen zu erhalten, aber gleichzeitig aufzuzeigen, dass es eine Varianz gibt. Mir ist es für meine Klasse wichtig, nicht in diese typischen Rollen zu verfallen. Wir haben eine Anzahl an Kindern, die können sich weder mit der Rolle der Prinzessin, die gerettet werden muss, noch mit der cleveren Müllerstochter, die eine gute Idee hat, aber eigentlich auch folgsam ist, identifizieren.» Damit gehe sie auf ein drängendes Bedürfnis ein.
Die meisten in Leenders Klasse können nämlich jetzt schon die Buchstaben, bis auf Einhundert zählen und vor allem alles hinterfragen. Wichtig sei, nicht einfach pauschal alle Geschlechterrollen umzudrehen oder, wie es in manchen modernen Adaptionen der Fall ist, auch inhaltlich zu verändern, sondern die Geschichten so zu erzählen, dass die Archetypen und die Symbolik nicht verändert werden. Immerhin stecken Märchen voller Botschaften über universelle menschliche Erfahrungen. Zudem können laut Leenders nicht nur alte Märchen stereotype Geschlechterbilder verstärken und die Vorstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit beschränken, sie findet dieses Prinzip auch in ganz modernen Märchen, Kinderbüchern, Spielzeug oder trendiger Kleidung für Grundschulkinder.
Wölfin im Schafspelz
Schwierig findet ihre Kollegin Natalie Macchia, wenn bei Tierfiguren umgekrempelt wird. Wie beim Prinzen auf der Erbse – da wird der Wolf zur bösen Wölfin. Schwierig findet Macchia es deshalb, weil «der Wolf» als allgemeine Bezeichnung für das Säugetier zunächst einmal Männchen und Weibchen umfasst. Mache man den bösen Wolf nun zur Wölfin, würde so bewusst ein Bild des bösartigen, gierigen und hinterhältigen weiblichen Wesens in Kinderköpfe gepflanzt werden. So weit, so einleuchtend. Aus gendersensibler Perspektive aber stolpern wir hier über die klassische Krux in der deutschen Sprache – das generische Maskulinum. Beim bösen Wolf oder auch beim gestiefelten Kater handelt es sich um vermenschlichte Tiere, die (genderspezifische) Kleidung und Accessoires tragen, menschliche Charaktereigenschaften besitzen wie Intriganz und Boshaftigkeit, und nicht zuletzt sprechen können. Der Märchenwolf besitzt also sehr wohl ein soziales Geschlecht (Gender). Darüber hinaus ist der Wolf natürlich ein Beutegreifer. Er jagt und tötet für seine Nahrungsaufnahme. Wenn nun ein solcher Prädator vermenschlicht wird (und gleichzeitig mit dem generischen Maskulinum ausgestattetet ist), kann eine Verknüpfung entstehen zwischen den Eigenschaften körperliche Macht, Aggression und Gewalt, jemand, der alles in Bewegung setzt, um seine belauerten Opfer aufzufressen, und dem Attribut «männlich». Womit alteingesessene Geschlechterbilder weiterhin reproduziert werden können. Eine aggressive, blutrünstige und körperlich überlegene Wölfin dagegen bietet die Chance, solche Bilder aufzulockern und mit Annahmen über genderspezifische Eigenschaften zu spielen. Und um einseitige Narrative zu vermeiden, könnten die Erzähler:innen das Märchen in beiden Versionen erzählen.
Und wieder … Kontext
Kindliches Denken ist bildhaft. Im Laufe der Jahre bis zum Jugendalter entwickelt sich das begriffliche Denken. Die Waldorfpädagogik setzt da an, indem das bildhafte Erzählen von Grimms sowie von anderen Volksmärchen, Fabeln und Sagen in den ersten Jahren großen Raum einnimmt. Im Jugendalter werden dann naturwissenschaftliche Fächer unterrichtet, die das kausale und begriffliche Denken anregen. Die Zuordnung des Unterrichtsinhalts zu einer Klassenstufe soll dabei als Hilfsmittel gesehen werden. Es ist die Aufgabe der lehrenden Person, zu sehen, welcher Inhalt für ihre Klasse an der Zeit ist. Und auch das Entwicklungstempo der einzelnen Kinder ist nie gleich. Wer tiefer in die Vermittlung von Bildern über die Schuljahre hinweg im Hinblick auf Gender in Märchen, Mythen, Sagen und Legenden eintauchen möchte, dem sei Alexander Hassensteins Artikel Wahre Bilder in dem von Sven Saar herausgegebenen Sammelband Beziehungskunst empfohlen.
Heißt gendersensibles Märchenerzählen nun, wir müssen auf das Traditionelle verzichten? Nein. Lediglich heißt es, einen bewussten Umgang mit alten Märchen zu finden, zu hinterfragen, wie dort soziale Rollen manifestiert werden, wie empowernd diese jeweils für die zuhörenden Kinder sind, inwiefern Minderheiten repräsentiert werden und wie zeitgemäß bestimmte Werte darin sind. Und dann danach zu entscheiden, wie beziehungsweise welche Märchen erzählenswert sind. Grundsätzlich kommt es immer auf die Intention an, warum ein bestimmtes Märchen erzählt werden soll. Wenn es um die kulturgeschichtliche Dimension der Erzählung geht, wäre ein Verändern nicht sinnig. Wenn die Fantasie der Kinder angeregt werden soll, Geschichten über menschliche Erfahrungen transportiert und gleichzeitig Bilder produziert werden wollen, die im Leben von Kindern heutzutage bestärkend wirken und an der Bildung eines breiten Horizonts beteiligt sind, dann ergibt es Sinn, Märchen und Geschichten auch mal umzukrempeln oder solche herauszusuchen, die einen verletzlichen Jungen, ein tollkühnes Mädchen oder eine Figur ohne definierte geschlechtliche Zuschreibung nahebringen. Und wenn ich schon als Kind erfahre, dass es auch Prinzen gibt, die zartbesaitet sind, und ichsolche Geschichten immer wieder höre – mindestens genauso oft wie die Geschichten vom starken und mutigen Ritter – dann sorgt diese Varianz für eine gewisse Normalität. Und dann fällt es mir vielleicht leichter, meine eigene Sensibilität und auch die anderer Menschen okay zu finden.
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