Die «Philosophie der Freiheit» von Rudolf Steiner ist in der Waldorfwelt eins der zentralen theoretischen Werke. Grund genug für mich, so viel Respekt davor aufzubauen, dass die Hemmschwelle, mit dem Lesen zu beginnen, wuchs, je länger das Buch im Regal stand.
Mein Wunsch, mich mit diesem Buch zu befassen, ist ein sehr persönlicher, denn ich bin bei allem, was ich über Waldorfpädagogik und Anthroposophie lese, immer auf der Suche nach einem Bezug zum Hier und Jetzt, nach einer Anwendbarkeit auf meine Lebenszusammenhänge und vielleicht auch nach einer Erklärung, warum die Welt gerade jetzt so ist wie sie ist und wie wir Menschen sie ändern könnten, wenn wir nur das richtige Werkzeug an der Hand hätten. Ob philosophische Betrachtungen dafür ein sinnvolles Werkzeug sein können, kann ich nicht sagen, aber die Suche nach den Quellen unserer Gedanken, das Erkennen einer bewusst entschiedenen Handlung, das verantwortliche Einordnen dieser Handlungen in den Weltenzusammenhang scheint mir aktuell notwendiger zu sein, denn je.
Hannah Arendt hat in einem Brief an Richard Bernstein geschrieben: «Manchmal denke ich, dass wir alle in unserem Leben nur einen einzigen wirklichen Gedanken haben, und alles, was wir tun, Ausarbeitungen und Variationen des einen Themas sind.» Für mich unterstreicht dieser Satz ganz besonders die Verantwortung, in der wir stehen, wenn wir die Motive unserer Gedanken und unseres Handelns überprüfen, und es zeigt mir gleichzeitig, dass wir uns mit dieser Aufgabe nicht in einem «Anthro-Kosmos» bewegen, sondern uns sowohl individuell als auch hinsichtlich unseres Handels in der Welt unserer Verantwortung bewusst machen müssen.
Mit dem Eintauchen in die Philosophie der Freiheit scheint man Seite für Seite animiert zu werden, ein Geheimnis lüften zu dürfen: Zunächst leider erst einmal das Geheimnis extrem langer Sätze mit oft nur schwer nachvollziehbarem Satzbau, der scheinbar nur dazu da ist, die Erfassung des Satzsinnes möglichst schwierig zu gestalten. Und dann ist da aber auch die Entschlüsselung einer Offerte, sich auf Ebenen der Denk- und Vorstellungskraft zu begeben, die gleichzeitig Faszination und immense Herausforderung beinhalten.
Und hier zeichnet sich auch schon das Problem ab: Das Entschlüsseln des komplexen Satzbaus und der die dahinter liegenden Bedeutung macht so viel Mühe, ist eine große Herausforderung für eine Freizeitlektüre, sodass man das Buch schon wieder im Regal verschwinden sieht mit der mühsam aufgebrachten Zuversicht, ganz bestimmt den nächsten Urlaub für eine intensive Beschäftigung mit Steiners Opus Magnum zu nutzen. Wie schade!
Welcher Art kann eine Annäherung sein, die nicht gleich wieder im Keim erstickt, wenn es mühsam wird? Man suche sich Verbündete! Gefunden habe ich diese in der Gruppe um Andreas Schmitt vom Verein Leben im Denken e.V., die einen einfachen Ansatz verfolgt: Die Verabredung eines Kreises von Menschen, sich für einen Zeitraum von sieben Monaten täglich eine Viertelstunde mit den Gedanken der Philosophie der Freiheit zu beschäftigen. Dabei werden die Teilnehmenden von sogenannten Gedankenkarten unterstützt, die Zitate aus den einzelnen Kapiteln wiedergeben und deren Inhalt man jeweils in dieser Viertelstunde gedanklich bewegen kann. Außerdem erhalten die Teilnehmenden wöchentlich Briefe, die in die Abschnitte einführen und Bezüge zum aktuellen Zeitgeschehen herstellen. In monatlichen Videokonferenzen kommt die Gruppe zum Austausch zusammen. Ein sogenannter Buddy, also eine Kontaktperson aus dem Kreis, wird für Einzelgespräche abseits der Sitzungen ausgewählt. Neben dem persönlichen Austausch in der Gruppe und mit dem Buddy fand ich die in zwei Boxen liebevoll verpackten Gedankenkarten besonders einladend, weil die Zitate, herausgelöst aus dem Gesamtwerk, ihre Wirkung in der täglichen Betrachtung in besonderer Weise entfalten. Die Einzelpräsenz der Sätze schafft einen Spielraum, der mit reger Seelentätigkeit gefüllt werden kann, im Unterschied zur Buchlektüre, in welcher ein eigentlich bedeutungsvoller Satz schnell untergeht.
Ich will nicht verschweigen, dass es auch bei diesem Projekt Durststrecken gibt und dass auch nicht alle Teilnehmenden bis zum Ende der sieben Monate durchgehalten haben. Ich war eine davon.
Die zugewandte Begleitung durch die Veranstalter:innen war aber auch in diesem Punkt erfrischend freilassend: Jede:r nimmt mit freudigem Herzen teil, soweit es möglich ist. Und wenn, wie in meinem Fall, es eine längere Unterbrechung braucht, um Gelerntes zu Vertiefen oder nach einer Weile wieder aufzunehmen, ist das kein Hindernis und wird nicht bewertet.
Ich habe zu Hause zwei Schatzkisten mit Gedankenkarten, die mich nun seit einiger Zeit immer wieder, mal mehr und mal weniger intensiv, aber kontinuierlich, begleiten. Vielleicht ist die Beschäftigung um das Rätsel des Schulungsweges mein „einzig wirklicher Gedanke“, nach dem sich mein Tun ausarbeiten und variieren will. Ich werde versuchen, das zu beobachten, wahrzunehmen und zu durchdenken …
Ausgabe 09/24
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