Die schöne Bewegung des Lebensleibes

Henning Kullak-Ublick | Was bedeutet das Wort Eurythmie?

Jutta Rohde-Röh | Eurythmie kommt aus dem Griechischen. »Eu« heißt gut, schön und »rhythmos« meint die gleich­-mäßige Bewegung. Also man könnte es mit »schöne und gute Bewegung« übersetzen.

HKU | Was ist eine schöne Bewegung, wenn man sie auf den Menschen bezieht?

JRR | Zum Schönen gehört das Gute, denn damit wird deutlich, dass etwas Sinnhaftes in dieser Bewegung lebt. Sie offenbart etwas vom inneren Menschen. Es gibt also einen Menschen, der sich in der Sichtbarkeit bewegt, und einen, der sich in der Unsichtbarkeit bewegt. Wenn das in einem gewissen Sinn zusammenfällt, dann haben wir es mit dem zu tun, was ich unter Eurythmie verstehe.

HKU | Das könnte man auf alle Bewegungen anwenden. Was ist das Besondere der Eurythmie?

JRR | Das ist der Zusammenhang mit den Bewegungen, die wir vollziehen, indem wir sprechen oder singen. Wenn man auf den inneren Menschen schaut, dann ist er nicht nur ein denkender, empfindender Mensch, sondern er ist auch innerlich bewegt. Diese innerliche Bewegtheit ist der Vermittler dessen, was wir Sprache nennen. In der Sprache wird ein inneres Erleben in einen hörbaren Laut, ein Wort überführt durch gesetzmäßige Bewegungen. Dies tut auch die Eurythmie. Diese Beweglichkeit, die allen menschlichen Vorgängen zugrunde liegt, den organischen Vorgängen, den Denk- und Empfindungsvorgängen, versucht die Eurythmie in ihrer Bewegung zu gestalten.

HKU | Ist der innere Beweger etwas, was man unmittelbar als Erfahrung wahrnimmt?

JRR | Es gibt Menschen, die diesen Leib, den Ätherleib, unmittelbar wahrnehmen und auch erforscht haben. Aber für jemanden, der dieses Bewusstsein nicht entwickelt hat, ist es das Einfachste, die Wirkungen des Ätherleibes wahrzunehmen. Man kann es als Lehrer an den Kräften, die einem Kind zur Verfügung stehen, an den Kräften für das Lernen, das Vorstellen, das Erinnern sehen. Man kann es in einem künstlerischen Tun als Wirkung wahrnehmen. Man kann diesen Beweger eigentlich in allem Lebendigen wahrnehmen, aber immer an seinen Äußerungen und seinen Wirkungen.

HKU | Wie wirkt die Eurythmie? Können Sie das an einem Unterrichtsbeispiel deutlich machen?

JRR | In diesem Unterricht lernen die Kinder sich selbst und ihren Körper gut kennen. Wenn sie im Unterricht mit den Lauten oder Tönen als Bewegung arbeiten, dann ist das an sich schon harmonisierend. Als Übung im Unterricht heißt das: Ich bewege mich im Raum, setze mich in ein Verhältnis zu einer Gruppe und setze eine Empfindung aus meinem Inneren nach außen. Es sind die verschiedenen Schichten von innen und außen, die ich zusammensetze, das wirkt ausgleichend, aber auch kräftigend. Ein Erlebnis von Übereinstimmung zwischen mir und meiner Tätigkeit stellt sich ein.

HKU | Muss ich dabei eine Wahrnehmung entwickeln, wie ich mich im Raum bewege oder wie der Raum mich bewegt?

JRR | Beides. Vom äußeren Menschen aus gesehen heißt Orientierung: Ich richte meine Gestalt in den Raum. Vom inneren Menschen aus gesehen bedeutet Orientierung: Wie führe ich mich? Wenn ich Kinder eine Acht laufen lasse, muss der innere Mensch eine Führung übernehmen und muss sich sogleich mit den äußeren räumlichen Gegebenheiten und den anderen Kindern in eine Korrespondenz setzen. Eine bewusste Wahrnehmung wird an etwas geübt, was sonst unbewusst geschieht. Das ist anstrengend, aber letztlich erfrischend.

HKU | Wenn ich tanze, dann ist die Seele ganz und gar dabei. Bei der Eurythmie ist das Lebendige in mir, der innere Beweger angesprochen. Kann man diesen Unterschied fassen?

JRR | Der Unterschied besteht darin, dass die Grundlage der künstlerischen Mittel der Eurythmie die Bewegungen des Lebensleibes des Menschen sind. Äußere ich meine Gefühle, dann ist das meine Sprache. Die Elemente, die dem Tanz zugrunde liegen, sind nicht die des Lebensleibes.

HKU | Was unterscheidet die Eurythmie vom Sport?

JRR | Rudolf Steiner hat immer gesagt, Eurythmie und Sport seien Geschwister. Sein Ideal des Unterrichts war der tägliche Wechsel, den er als gesundend beschrieben hat. Es ist der gesunde Wechsel zwischen dem inneren und dem äußeren Menschen. Eurythmie und Turnen müssen sich fortwährend ergänzen, indem der Leib in seinen Gesetzmäßigkeiten und den Gesetzmäßigkeiten des Raumes sich übt und der Leib sich als ein innerlich bewegter übt, damit ein Kind sich als Individualität in ihm »beheimatet«. Die Kinder können gut unterscheiden zwischen dem Wohlgefühl und dem Zusammenklang, die sie in der Eurythmie erleben, und der unglaublichen Freude am Kräftemessen, dem Zielgerichteten im Turnen. Das eine Mal erleben die Kinder vom Gefühl her: Es ist gelungen. Das andere Mal: Es ist erreicht.

HKU | Bei der Eurythmie von Kindern ist mir oft aufgefallen, wie sie ein Gemeinschaftsband in den Raum hinein gestalten, das in der Mitte ihres Wesens empfunden wird.

JRR | Das rhythmische System, das Pulsieren des Herzens, das Atmen der Lungen, schafft im Menschen den Ausgleich zwischen zwei Polen, es bildet die Mitte. Das macht die Eurythmie auch. Alles, was das Vorstellungsleben betrifft, sollen wir aus der Eurythmie heraushalten, was willenshaft ist, fördern. Wir wollen das Leben verstärkt in den Leib hereinholen. Das ruft ein Gefühl von In-mir-Sein hervor. Und gleichzeitig kann ich mich über die Bewegung wunderbar wieder mit den anderen Kindern zusammenschließen. Was Sie als Mitte bezeichnen, würde ich damit umschreiben, dass die Kinder »flüssig« werden. Es ist eine Qualität, die bewahrt und trotzdem Bewegung schafft.

HKU | Was unterscheidet die Eurythmie für Jugendliche von der für Kinder?

JRR | Mit den Kleinen lebt man ganz in der Nachahmung. Die größte Freude der kleinen Kinder ist es, die ganze Welt in Bewegung nachzuahmen. In der Mittelstufe werden Dinge erarbeitet, die konkret damit zu tun haben, ob ich einen Rhythmus, eine Orientierung einhalten kann, ob ich mich wirklich nach der Sprache richte und wie ich mich mit den anderen in ein Verhältnis setze. Da geht es um Genauigkeit und einen konkreten Übprozess mit der Gestalt. In der Oberstufe geht es um die Eurythmie als Kunst, die Jugendlichen   sollen erfahren, dass sie einen persönlichen Ausdruck mit der Eurythmie verwirklichen können. Sie sollen erfahren, wie sie einen Prozess führen, entwickeln und umsetzen können.

HKU | Ist Eurythmie wirklich ein »Hassfach«, wie es der Spiegel einmal titelte?

JRR | Nein. Man kann natürlich Widerstände entwickeln, weil die Eurythmie etwas ist, das einen totalen Gegenimpuls zu unserer Zeit bildet, die tendenziell an dem Pol wirkt, der die Kräfte aufbraucht. Die Eurythmie hingegen versucht, an den Aufbauprozessen zu wirken. Das ist nicht sehr beliebt in unserer Zeit. Dann stellt sich die Frage nach dem Zweck: Was kann ich damit eigentlich machen? Und das ist für die jungen Leute nicht einfach. Gerade wenn die Fragen kommen, wozu das gut sein soll. Und dann kommt noch hinzu, dass Eurythmie nicht etabliert ist. Allerdings erlebe ich in der Unterrichtspraxis, dass die Schüler sehr gut einschätzen können, was ihnen die Eurythmie als Ausdrucksmittel geben kann, und welche Erfahrungen sie in Bezug auf ihren individuellen »Standpunkt« im Verhältnis zur Welt darin machen.

HKU | Die Eurythmie ist im Vergleich zu anderen Künsten noch jung: Es gibt sie jetzt hundert Jahre. Hat sie sich in dieser Zeit verwandelt?

JRR | Selbstverständlich. Wir befinden uns zur Zeit an einem großen Wendepunkt. Man hat begriffen, dass man die Eurythmie in viele Bereiche bringen und auch vielen Kindern und Jugendlichen zur Verfügung stellen muss. Und gerade die Jugendlichen selber bringen mit ihrer Arbeit die Eurythmie in die Welt. Nehmen wir nur als Beispiel das Jugend-Eurythmie-Projekt »What moves you?«. Die Ausbildungen haben sich vollkommen neugestaltet. Die Bühnenkunst geht radikal neue Wege. Der Umgang mit und die Präsenz in den Neuen Medien hat auch einiges verändert.

HKU | Früher gab es die drei großen klassischen Felder der Eurythmie: die therapeutische, pädagogische und die künstlerische. Sind neue Felder dazugekommen?

JRR | Ja, zum Beispiel ist die Eurythmie im sozialen Bereich dazugekommen. Das geht von der Eurythmie im Betrieb über Eurythmie mit alten Menschen bis hin zur Eurythmie im Strafvollzug. Auch noch neu hinzugekommen ist, dass man auf der einen Seite an den Grundelementen der Eurythmie intensiv arbeitet und auf der anderen Seite ein Element, eine Übung ganz weit ausdehnt, variert und in entsprechende Bereiche überführt. Das heißt, man konzentriert sich auf eine einzige Übung und wendet diese zum Beispiel im Berufsleben bei bestimmten Einseitigkeiten an. Man gibt diese einzelnen Elemente als Eurythmist aus der Hand. Das ist wirklich neu, dass man Elemente der Eurythmie aus der Hand gibt. Neu ist auch die Forschung auf dem Gebiet der Eurythmie, empirische Forschung, Praxisforschung vor allem in der Pädagogischen Eurythmie.

HKU | Wie wird man Eurythmist?

JRR | Wenn man das  Abitur nicht hat, kann man eine Eignungsprüfung machen. Dann dauert das Grundstudium vier Jahre (es gibt auch integrierte Berufsausbildungen) und schließt fast immer mit dem Bachelor ab. Dann kann man sich spezialisieren auf die Eurythmie im Sozialen, im Pädagogischen, Künstlerischen, Therapeutischen. Der formale Abschluss ist der Master. Zentrum bleibt aber immer eine wirklich künstlerische Ausbildung mit den eurythmischen Grundelementen.

HKU | Muss man Anthroposoph sein, um Eurythmie machen zu können?

JRR | Nein, selbstverständlich nicht. Aber ohne die Anthroposophie kann ich mir die Eurythmie erkenntnismäßig nicht erschließen.