Sachbuch

Die Schulhandlungen oder: Ein Kosmos der Liebe soll die Erde werden

Karin Linder

Die erste Kinderhandlung wurde 1920, die erste Opferfeier 1923 gehalten. So haben wir ein hundertjähriges Jubiläum von insgesamt vier kultischen Handlungen, welche weltweit an Waldorfschulen und Camphill-Einrichtungen fester Bestandteil sind. Unverzichtbar! Warum eigentlich?

Dieser Frage geht die Autorin Elisabeth von Kügelgen nach. Sie war über Jahrzehnte lang Lehrerin und Handlungshaltende an der zweiten Waldorfschule in Stuttgart. So spricht und schreibt sie aus vollem inneren Erleben – und zugleich sind ihre Ausführungen gewissenhaft erforscht und erklärt. Alles wirkt unmittelbar einleuchtend.

In einem gut leserlichen Schreibstil geht sie in vier Teilabschnitten zuerst auf die Hintergründe und Inhalte der Schulhandlungen ein, dann kontextualisiert sie diese in einem weit größeren Zusammenhang und beschreibt die zwei sich stetig entwickelnden geistigen Menschheitsströmungen, deren Kunde zum Verständnis der Entstehung von Kultushandlungen notwendig sind. Im dritten Teil zeigt die Autorin, wie diese großen Entwicklungen sich in der einzelnen Biografie Herbert Hahns, als Empfänger der Handlungen, widerspiegeln. In einem vierten Teil sind Stellen aus dem Werk Rudolf Steiners zusammengetragen, die einen Zugang zu einem zeitgemäßen allgemeinen Verständnis des Christusgeistes ermöglichen können.

Von Kügelgens Ausführungen sind lebendig, tiefgreifend und voller Aspekte. Ihr gelingt es, komplexe kosmologische Entwicklungen plausibel zu machen und exemplarisch anhand historischer Geschehnisse, Biografien und Legenden zu verdeutlichen.

Im Detail erfährt man mehr über die Bedeutung der zwei Jesus-Knaben, den Grundsteinspruch der Anthroposophischen Gesellschaft, Kain und Abel, König Salomo und Hiram Abiff, Petrus und Lazarus-Johannes, den Templerorden, Christian Rosenkreutz, Parzival, zwei verschiedene Erkenntniswege (Sommer- und Winterweg genannt) sowie die Natur in ihrem gleichnishaften und hinweisenden Charakter, vor allem aber die Unterschiede und zukünftige Gemeinsamkeiten zwischen den Schulhandlungen und der Christengemeinschaft.

Selbst mir, die ich Jahrzehnte die Handlungen miterlebte, enthüllte die Autorin Erstaunliches. Die Lektüre ihres Werkes gestaltet sich wie ein Dialog mit der geistigen Welt, welche zugleich Kunde über die eigene Biografie erteilt. Aber auch Neueinsteiger:innen erfahren hier Grundlegendes der Anthroposophie.

Das Buch macht deutlich, warum die Handlungen, warum eine kultische Feier ein menschheitlich Allgemeingültiges, ein Begegnungsort von Mensch und Gottheit ist, von allen Teilnehmenden bewusst durchdacht, gewollt und erlebt. Es geht also in diesem Buch nicht um eine historische Abhandlung, es geht um Spiritualisierung als Grundlage der persönlichen Freiheit innerhalb einer Gemeinschaft in Dankbarkeit, Angstfreiheit, Weiterentwicklung und Friedenswillen, welcher nur in der Liebe von Mensch zu Gott und von Mensch zu Mensch gelingen kann. So wird «... die Begegnung jedes Menschen mit jedem Menschen von vornherein eine religiöse Handlung, ein Sakrament» (Rudolf Steiner, GA 18, Dornach 1969, S.141).

Unsere Zeit ist durchzogen von Kriegen, Vor- und Aburteilungen, Negativität und moralischer Desorientierung. Die Schulhandlungen, deren Teilnahme freiwillig ist, können Lebenskraft und Zuversicht schenken und ermöglichen ein freilassendes religiöses Erleben. So ist der Schulkultus ein Heilungszentrum, ein Friedensort.

Elisabeth von Kügelgen. Kultus als spiritueller Weg. Die Schulhandlungen und ihr geistiger Hintergrund. Pädagogische Forschungsstelle, Stuttgart 2022, 368 Seiten, 28 Euro

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