Ungefähr ein Drittel aller Flüchtlinge sind minderjährig, viele haben in ihrer Heimat kaum oder gar keine Schulbildung erhalten. Ungefähr 70.000 von ihnen sind unbegleitete Flüchtlinge, davon leben allein 3.000 in Berlin. Inzwischen haben in der Hauptstadt vier Waldorfschulen Flüchtlingsklassen aufgemacht und stellen sich damit einer neuen pädagogischen Herausforderung.
Samira stürmt in die Klasse: »Heute hat mein Vater Geburtstag«, sprudelt es aus der Zwölfjährigen heraus. Es ist kurz vor 8 Uhr. Sie gibt ihrem Lehrer, Sönke Bohn, die Hand, und schon ist sie unterwegs zu ihren Freundinnen. Seit September 2015 gibt es die Willkommensklasse in der Waldorfschule Berlin-Mitte. Nach einem Jahr, so das Konzept, sollen die Kinder in den Regelunterricht wechseln.
Am Anfang hat Sönke Bohn die Kinder in ihrer Unterkunft im »Asylantencontainer« in der Haarlemer Straße in Neukölln noch abgeholt. Sie hatten Angst vor ihm, Schule und Prügel, das gehörte für sie zusammen.
Arabisch, Dari, Farsi und Deutsch
Heute sind neun der 15 elf- bis zwölfjährigen Kinder da, die meisten kommen pünktlich. Sönke Bohn ist bei einigen froh, dass sie überhaupt kommen. Mohammed aus Aleppo zum Beispiel. Er ist ein unbegleiteter Flüchtling und wohnt mit seinem großen Bruder in wechselnden Hostels, mal näher, mal weiter weg von der Schule. Egal wie weit der Weg ist, Mohammed will auf jeden Fall in seiner Klasse bleiben.
Jetzt geht es los! Sönke Bohn steht vorne, die Kinder vor ihm an den Tischen. Ein Ball fliegt hin und her, sie lachen, es wird gestampft, gesprungen. Jetzt stehen sie im Kreis, singen, sprechen einen Spruch und all das Elend, das sie erlebt haben, scheint weit, weit weg zu sein.
Den üblichen Morgenspruch will Sönke Bohn nicht sprechen, es ist besser das Wort »Gott« zu vermeiden, zu unterschiedlich wird der Begriff interpretiert, zu oft führt er zu Missverständnissen. Dann wird das ABC geübt. Die Kinder dürfen Worte mit ›K‹ an der Tafel sammeln und dann in die Hefte übertragen »Kaffee, Kartoffel, Kakao, Kuss«. Die Klasse arbeitet konzentriert, immer wieder gibt es etwas zu lachen. Untereinander sprechen sie Arabisch und Farsi. Sönke Bohn spricht das nicht, trotzdem kann er sich inzwischen über alles mit den Kindern verständigen. Wenn es einmal kompliziertere Dinge zu klären gibt, ist da zum Glück Herr Abdulla, der Mathelehrer aus der Oberstufe. Er spricht Kurdisch, Arabisch, Dari, Farsi und Deutsch. Gerade steckt er den Kopf zur Türe herein, mal schauen, ob man ihn braucht? Ja, ein Mädchen wollte den Kinder-Tanzkurs bei Sasha Waltz besuchen, aber der ist abends, wenn es schon dunkel wird. Ihr Vater will sie nicht gehen lassen. Abdulla will einmal mit dem Vater sprechen, ob sich das doch irgendwie machen lässt. Sönke Bohn erzählt, dass die Mädchen viel offener sind, weniger Scheu haben und meist aufnahmefähiger sind als die Jungen. Die Jungen leiden unter geringerem Selbstwertgefühl, oft stecken sie fest in ihren Rollenverständnissen.
Um 9 Uhr geht die Praktikantin Maram mit zwei Jungen das gemeinsame Frühstück vorbereiten. Bald ist Pause. Die Kinder sitzen um einen großen Holztisch, nehmen sich bei der Hand und wünschen sich einen guten Appetit. Heute teilt Haias aus einer großen Schüssel Müsli in die Schälchen aus. Es sind die einfachen Rituale, ein gemeinsamer Anfang, eine gemeinsame Mahlzeit, die Zusammengehörigkeit und Geborgenheit vermitteln. Nach dem Frühstück nehmen die Kinder an künstlerischen und handwerklichen Unterrichten teil: Handarbeit, Werken, Musik, Eurythmie, Gartenbau – und kommen so von Anfang an mit den anderen Schülern und der deutschen Sprache in Kontakt.
Sönke Bohn ist immer für die Kinder erreichbar. Wer irgendwo nicht unterkommt, darf mit ihm noch ein wenig weiterüben. Bohn war 15 Jahre lang Klassenlehrer, außerdem ist er Heilpädagoge und Eurythmist. Die Aufgabe mit den Flüchtlingskindern erlebt er als zweite Berufung. »Die größte Herausforderung ist nicht die Sprache«, sagt Bohn, »sondern die unterschiedlichen Voraussetzungen, die die Kinder mitbringen.« Heterogene Klassen sind ureigenes pädagogisches Terrain der Waldorfschulen, allerdings können die Lehrer die Zusammensetzung der Klasse selbst bestimmen. Anders bei einer Willkommensklasse: Hier entscheidet die Behörde. Da ist zum Beispiel Anastasija aus Minsk, ihr Vater ist für seine Firma in Berlin. Sie ist zehn und spielt die Goldbergvariationen auf dem Klavier, während Aso, ein zwölfjähriger syrischer Kurde, der drei Jahre allein als Straßenkind in Istanbul gelebt hat, nicht einmal alphabetisiert war.
Willkommen und angekommen – aber wo?
Das Schuljahr 2015/16 hat in Berlin mit über 500 Willkommensklassen für mehr als 5.700 Schüler begonnen. Ursprünglich sollte eine Klasse nicht mehr als zwölf Schüler umfassen. Das konnte nicht eingehalten werden. Manche Bezirke mussten bis zu 60 Willkommensklassen aufmachen. Es zeigt sich, dass die räumlichen Kapazitäten an den Schulen nicht ausreichen. Angedacht ist ein getrennter Unterricht in den Flüchtlingsheimen. Gerade das wollte man aber vermeiden, um dadurch das Entstehen von Parallelgesellschaften zu verhindern. Bis heute haben junge Menschen mit Migrationshintergrund und entsprechendem sozialem Umfeld geringere Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss als Schüler deutscher Sprache.
Andererseits leidet die Unterrichtsqualität, wenn in den Klassen zu wenig deutschsprachige Schüler sind. Viele Familien wollen daher ihre Kinder nicht in Klassen mit hohem Ausländeranteil unterbringen und sehen sich nach anderen Schulen um.
Bei einem Fachgespräch, zu dem die Berliner Bündnisgrünen im März alle staatlichen und privaten Schulen mit Willkommensklassen eingeladen hatten, war man sich einig, dass die meisten Schüler nach einem Jahr noch keine ausreichenden Sprachkenntnisse besitzen, um am regulären Unterricht teilzunehmen. Gerade für die älteren Schüler ist es schwierig, sich innerhalb eines Jahres eine neue Sprache ausreichend anzueignen. Sie werden daher anschließend oft in Klassen untergebracht, denen sie altersmäßig längst entwachsen sind. Dies erweist sich als problematisch, denn sie machen entweder keine Fortschritte oder fallen sogar leistungsmäßig zurück. Brigitte Kather, die stellvertretende Schulleiterin der internationalen Unesco-Projektschule Nelson-Mandela berichtet, dass erst nach etwa einem halben Jahr die verdrängten Traumata zum Vorschein kämen und fordert deshalb mehr psychosoziale Betreuung. Manche Schwierigkeiten ließen sich vielleicht durch einen höheren Personalaufwand beheben, doch schon der Bedarf an Sprachlehrern lässt sich selbst mit Quereinsteigern kaum decken. Konsens ist, dass es kein Integrationsschema gibt, das für jeden Schüler passt.
Freiwillige Verantwortung
Für Waldorfschulen ist die Eröffnung einer Flüchtlingsklasse im Gegensatz zu den staatlichen Schulen freiwillig, doch sie empfinden dies als gesellschaftliche Verantwortung. Die ersten Waldorfschulen in Berlin, die sich der Herausforderung, Flüchtlingskinder aufzunehmen, gestellt haben, waren die Rudolf-Steiner-Schule in Dahlem und die Waldorfschule Berlin-Mitte. Inzwischen gibt es zusätzliche Willkommensklassen in den Waldorfschulen Kreuzberg und Berlin-Südost. Auch die Waldorfschule Märkisches Viertel überlegt, eine Klasse zu eröffnen.
Die Willkommensklasse an der Waldorfschule Berlin-Dahlem ist aus der Notunterkunft in der Turnhalle der Freien Universität entstanden. Conny Bergengrün hat ihre Weihnachtsferien dort verbracht und mitgeholfen, die neu ankommenden Flüchtlinge zu versorgen. Daraus ist die Idee entstanden, für die Kinder eine Klasse an ihrer Schule aufzumachen. Anfang des Schuljahres ging es los. Conny Bergengrün ist Oberstufenlehrerin für Deutsch und Sozialkunde. Den Leistungskurs wollte sie dieses Jahr abgeben, aber ihre Schüler waren darüber traurig. Nun macht sie ihn doch. Für einen intensiven Austausch mit den Kollegen der anderen Willkommensklassen bleibt ihr keine Zeit. Bis spät abends ist sie für ihre Schüler ansprechbar. Es sind besonders die, die ohne Eltern hier sind, die sich sogar nachts, wenn sie alleine im Bett im Containerdorf liegen, bei ihr melden.
Ohne die volle Unterstützung des Kollegiums und der Elternhäuser hätte das nicht geklappt. Die Schüler einer Waldorfschule kommen gewöhnlich aus einem bildungsbürgerlichen Umfeld. Die Entwicklung zur Interkulturalität, wie sie an den staatlichen Berliner Schulen stattgefunden hat, wurde hier kaum mitvollzogen. Es ist eine andere Welt, eine fremde Kultur und es gibt Konflikte, die die Kinder aus den Unterkünften in die Schule mitbringen. »Wir werden lernen müssen, uns dem Allgemeinmenschlichen mehr zu öffnen«, sagt Sönke Bohn und meint, dass unsere bisherigen mitteleuropäisch geprägten Vorstellungen hierfür bisher nicht ausreichen.
Angst vor der Abschiebung
Ariane geht in Conny Bergengrüns Klasse. Sie ist mit ihrer Familie vor der Perspektivlosigkeit in Albanien geflüchtet. Ariane kann nicht schlafen. Die Familie muss täglich damit rechnen, dass die Polizei vor der Tür steht und sie abschiebt, auch nachts. »Ihr seid doch bloß wegen Wirtschaft hier«, sagen die syrischen Kinder zu den albanischen. Die Kinder haben wenig Verständnis füreinander. Junis aus dem Irak findet, dass Ariane es gut hat, ist sie doch mit ihren Eltern hier. Er versteht nicht, warum Armut und der dauernde Vorwurf, ein Schmarotzer zu sein, auch ein schweres Los sind. Nachmittags um 15.00 Uhr ist es leer im Flüchtlingsheim in der Potsdamer Chaussee. Drei schwarzgekleidete Security-Mitarbeiter kontrollieren am Eingang, wer hinein darf. Auf dem langen Flur spielt ein kleiner Junge Flöte. Conny Bergengrün hat heute einen Brief für die Eltern dabei, den sie zur Verwaltung bringt. Im Mai möchte sie mit ihren Schülern an die Nordsee auf Klassenfahrt fahren. Die Lehrerin freut sich: »Diesmal soll es eine schöne Reise werden.«
Zur Autorin: Ingrid Schütz ist Lehrerin für Englisch und Deutsch an der Emil Molt Akademie in Berlin.