Ein Ausflug zum Kalied und nach Düdinghausen

Joachim von Königslöw

Es war ein wunderbarer, warmer, lichter Frühlingstag, ich machte mich erwartungsfroh auf den Weg ins Hochsauerland über mir schon bekanntes Gebiet hinaus. Seitab von der Hauptstraße fiel mir ein Dorf auf, dessen spitzer Kirchturm sich hell vom dunklen steilen Bergrücken der »Kahlen Pön« absetzte. Zu diesem mir unbekannten Dorf fuhr ich hin. Es war Düdinghausen.

Der rührige Heimatverein hat an einer Kreuzung im Unterdorf große Tafeln mit genauen Landkarten, fundierten Texten und Fotos aufgestellt; die studierte ich eifrig und erfuhr, dass Düdinghausen in alten Zeiten Hauptort einer Freigrafschaft war, zu der acht umliegende Dörfer gehörten; den alten Freistuhl, von dem aus früher Recht gesprochen wurde, hat man aus markanten Felsbrocken nahe dem Dorf wieder rekonstruiert.

Dieser Ort, im Grenzbereich des Rheinisch-Westfälischen Schiefergebirges, ist auch erdgeschichtlich interessant: Ein geologischer Rundweg führt um das Dorf herum zu vier aufgelassenen Steinbrüchen, in denen spektakuläre Aufschlüsse der hiesigen Gebirgsbildungen zu sehen sind. Der von der Info-Tafel aus nächstgelegene Steinbruch ist nur wenige hundert Meter entfernt am Berghang; ich gehe hin und sehe das gebogene Stück einer kräftigen Erdfaltung, die sich in die vielfältigsten Schichtungen, Färbungen und Strukturen differenziert – ich staune das erst an, dann versuche ich, besonders interessante Strukturen zu fotografieren.

Was nun weiter? Es ist schon Nachmittag; die strahlende Sonne lockt hinaus, hinauf … Ich finde ein Sträßchen, das zur Höhe führt. An einer Biegung, die wie ein Erker über der Talweite liegt: ein schöner Picknick-Platz – ein Tisch und zwei Bänke aus altem silbergrauem Holz. Ich steige aus, esse, trinke, freue mich am Kirchturm des Dorfes, der schräg unter mir gelblich-weiß zum Grün der Vorfrühlingslandschaft kontrastiert.

Ich blättere in der Broschüre »Lebendige Stille. Wanderungen zu den Sauerland-Seelenorten«. Ich hatte das Heft als Pausen-Lektüre eingesteckt. 43 »Seelen-Orte« des Sauerlands, von Einheimischen ausgesucht, werden darin aufgeführt – und siehe da! Gerade das Dorf Düdinghausen wird dort im Gespräch des Autors mit Horst Frese, dem Vorsitzenden des hiesigen Heimat- und Verkehrsvereins vorgestellt. Er sagt: »Dieser Ort ist für mich ein kleiner Kosmos. Weite, umgeben von Bergen. Der Himmel, an dem die Wolken wie eine Herde vorbeiziehen, der Blick auf Wald und Felder, Schafe und Kühe auf der Weide. Schmetterlinge gibt es hier, Bienen, Sperber, Schwalben und Krähen. Für mich ist das eine große Einheit und mittendrin dieser Kraft- und Machtort, an dem vor vielen Jahrhunderten Recht gesprochen wurde«. Und weiter erzählt er über das Dorf, die alte Freigrafschaft, die ewigen Grenzstreitigkeiten zwischen den Grafen von Waldeck und den Erzbischöfen von Köln, die in diesem Gebiet um die Vorherrschaft rangen.

Ich lege das Heft zur Seite, schaue von meinem schönen Rastplatz aus in die weite Runde der Berge und auf das Dorf – diesen »kleinen Kosmos« – hinab und denke erfreut: »Nicht nur diese Landschaft und das Dorf habe ich hier entdeckt, sondern erfahre auch etwas von den Menschen, die dort leben; höre sogar von einem, der heute den Ort noch prägt und ihn ›weiterbringen will‹«! Am liebsten wäre ich gleich ins Dorf hinabgefahren, um diesen Mann aufzusuchen und ihn kennenzulernen.

Aber ich komme mir auch irgendwie als Eindringling in diese mir bisher unbekannte Welt vor. Außerdem ist der Tag schon vorgerückt; das Licht bereits golden und satt, und so fahre ich lieber weiter hinauf auf den Berg, um noch einen Überblick über Land und Landschaft zu bekommen. Oben, am Parkplatz, bin ich allein; zum Gipfel des Kalied, nur einen knappen Kilometer weit; führt ein sanft ansteigender Waldweg; in den Senken und Schonungen liegen noch große Flecken alten Schnees. Dann – plötzlich – öffnet sich der Wald; über eine steile Bergwiese hinweg fIiegt der Blick auf einmal fort – fast in die Unendlichkeit! So kommt es mir vor; denn von dieser Höhe aus liegen die Horizonte in nahezu 20 bis 30 Kilometer Entfernung! Über tief eingeschnittene Täler und steile Bergrücken, die wie Brandungswellen vor mir aufschäumen, werden die Höhen und Senken zur Ferne hin immer flacher und weiter, wie die Dünung eines Meeres – und der Blick gleitet bis zu Höhenzügen, die schon zum Kellerwald oder sogar zu den Ausläufern des Westerwaldes gehören.

Als ich mich sattgesehen habe, gehe ich zurück, fahre wieder hinunter ins Tal, unternehme aber noch schnell einen Abstecher zum letzten der mir hier unbekannten Dörfer: Nach Tittmaringhausen, einem Dorf, das sich so eng an den Fuß der Kahlen Pön schmiegt, dass man es über die Buckel des Abhangs hinweg von oben nicht sehen kann. Zwei Bäche, die Warmecke und die Wilde Aar, fließen am Dorfplatz zusammen und rauschen durch eine Toröffnung unter dem Chor der kleinen Kirche hindurch, um sich dahinter mit einem dritten Bach namens Grundwasser zu vereinigen. Das propere Dorf im Tal liegt jetzt schon im Abendschatten, aber auf die Hänge der Bergwälder ringsum wirft die Sonne ihr goldenes Licht noch so leuchtend, dass ich beim Blick hinauf wie geblendet bin vom Grüngold, Braungold, Goldocker und den rotgoldenen Grün- und Oliv-Tönen der Fichten- und der noch kahlen Buchenbestände. Von da aus ging die Fahrt nach Hause.

Ein wunderbarer Ausflugstag liegt hinter mir; wenn auch, bis auf wenige Grußworte hin- und her – die Begegnungen mit Menschen fehlten. Doch bin ich dankbar für das Erlebte und zufrieden – aber es fehlte noch etwas, um Begegnung und Erlebnis der ehemaligen »Freigrafschaft Düdinghausen« am Fuß der Kahlen Pön abzurunden.

Das zu ergänzen gelang am nächsten Morgen. In der Broschüre »Auf den Spuren des Klosters GlindfeId in der Region«, die ich unterwegs in einer Kirche sah und gegriffen hatte und jetzt las, erschloss sich mir der größere geschichtlich-geographische Zusammenhang: Schon 1177 gab es im Dorf Küstelberg, das ja an der sogenannten Heidenstraße von Köln nach Leipzig und damit auch an einem der wichtigen Jakobs-Pilgerwege durch Europa lag, ein Augustinerinnen-Kloster. Das florierte aber nicht – angeblich des rauhen Bergklimas wegen – und wurde 1297 nach GlindfeId bei Medebach verlegt. Aber auch dort florierte es nicht. Zu Michaeli 1499 wurde es daher an die »Kreuzherren« – den »Orden der Herren vom Heiligen Kreuz« – übertragen. Das war einer der strengen mittelalterlichen Reform-Orden. Das Kloster blühte unter ihnen auf, und die eifrigen Patres förderten die ganze Region, nicht nur durch Seelsorge und Schulbildung, sondern auch durch ihr kompetentes Wirken in Viehzucht, Gartenbau, Fischzucht und vor allem in der Waldwirtschaft. 1804 wurde das Kloster – wie damals auch alle anderen – aufgelöst.

Unmittelbar bis heute wirkt aber »der leidenschaftliche Kampf der Mönche für die Rekatholisierung der großenteils protestantisch gewordenen Bevölkerung der Grenzregion, vor allem der Dörfer der Waldeckschen Freigrafschaft Düdinghausen« nach. »Durch den Einsatz der Mönche«, heißt es in der Broschüre des Heimatvereins, »rebellierte die wieder katholisch gewordene Bevölkerung gegen den Verbleib im protestantischen Waldeck. So sahen sich die großen Mächte 1663 gezwungen, den Westfälischen Frieden nachzuverhandeln und den größeren Teil der Freigrafschaft dem Fürstbistum Köln und damit Westfalen zuzuordnen.«

Ich war ausgezogen, um bei herrlichem Wetter ein paar mir unbekannte Dörfer und schöne Landschaft zu entdecken – und nun erlebe ich, wie diese Landschaft, diese Dörfer sich innerhalb eines Tages zu einer historischen und sozialen Ganzheit und einer landschaftlichen Individualität verlebendigen, der ich in Gestalt der »ehemaligen Freigrafschaft Düdinghausen und ihren Dörfern unter der Kahlen Pön« begegnet bin – einer landschaftlichen und zugleich spirituellen »Gestalt«, die sich unter dem Einfluss des Klosters Glindfeld einerseits und der freiheitlich-demokratischen Traditionen der alten sächsischen Siedler andererseits so nachhaltig entwickelt hat, dass Zeitgenossen, wie Herr Frese einen ehemaligen Freistuhl als »Kraftort« empfinden und die ganze Örtlichkeit Düdinghausen als einen »Seelenort« des Sauerlands erleben und beschreiben können. Und so kam ich zu der Einsicht: Es bereichert nicht nur das Erleben der Menschen, sondern tut der Erde selbst wohl, wenn man ihre Örtlichkeiten als natürliche und geschichtliche – vom Menschengeist belebte und durchdrungene – Individualitäten erkennt – und würdigt. Das wäre eine künftig anzustrebende Art touristischen Reisens, das die Landschaften und die Orte als »Kulturlandschaften« und »Kraftorte« erkennt und sie als solche weiterentwickeln will.

Zum Autor: Dr. Joachim von Königslöw, langjährig Lehrer an der Rudolf Steiner Schule in Dortmund in den Fächern Deutsch, Geschichte, freier christlicher Religionsunterricht und Kunstbetrachtung.