Ein Wandervogel wird Waldorflehrer: Peter Lampasiak

Peter Lampasiak, Heike Oberschelp

Heike Oberschelp | Herr Lampasiak, Sie arbeiten seit fünfzig Jahren in Waldorfschulen in Hannover und haben die Waldorfschule Bothfeld zusammen mit Ihrer Frau gegründet. Wie sind Sie dazu gekommen?

Peter Lampasiak | In den 1970er Jahren wurde in Hannover immer deutlicher, dass eine zweite Waldorfschule entstehen müsste. Als sich niemand anderes fand, diese Aufgabe zu übernehmen, entschlossen sich meine Frau und ich mit einigen Freunden dazu, das Wagnis einzugehen. Von der Schule am Maschsee bekamen wir grünes Licht. Wir wurden aber gebeten, erst einmal für Lehrernachwuchs zu sorgen. So stellten wir unsere Gründungspläne für drei Jahre zurück, in denen wir mit den Kollegen unserer Mutterschule den Berufsbegleitenden Lehrerkurs einrichteten und betreuten. Dann erst ging es, unterstützt von einer äußerst aktiven Elternschaft, mit der Schulgründung los. Viereinhalb Jahre waren wir in der Mutterschule zu Gast, dann erst konnten wir im Jahr 1982 zu bauen beginnen und am Nikolaustag die Kinder in ihre eigene Schule führen.

HO | Eine Besonderheit der Bothfelder Waldorfschule ist die Wandergruppe. Wie ist sie entstanden?

PL | Als jemand, der durch seine Wandervogel-Eltern geprägt war, führte ich sehr bald eigene Gruppen. Ich verfolgte nicht die Ziele und Bräuche der Hitler-Jugend, sondern der Bündischen Jugend, besonders der Jungenschaft von Tusk: Fahrten mit der Kohte, Kosakenlieder, Lagerfeuerleben. Alles das wurde verboten, und ich wurde 1944 wegen »Bündischer Umtriebe« meiner Führungsfunktion enthoben. Kurz danach wurde ich mit gerade 16 Jahren Soldat. Nach dem Krieg habe ich recht bald mit meinem Freund Klaus-Jürgen Citron in Schleswig eine Jungenschaftshorde gegründet.

Im ersten Jahr meiner Tätigkeit an der Waldorfschule leitete ich mit Jungen der Oberstufe einen Kosakenchor. Wir traten beim Fasching auf, und ich führte einen Kosakentanz auf. Die Eurythmistin Irmgard Reipert, auch eine ehemalige Wandervogelfrau, rief mir damals zu: »Herr Lampasiak, sie müssen eine Wandergruppe gründen!« Ich hatte eigentlich genug zu tun, aber dann kamen Eltern auf mich zu, die sich so etwas für ihre Kinder wünschten. So entstand die Wandergruppe. Bereits zwei Jahre später gingen wir auf große Fahrt nach Finnland. Inzwischen hat sie sich im Zusammenschluss mit ähnlichen Initiativen an Waldorfschulen zur »Freien Fahrtengemeinschaft Artaban« gemausert, der Gruppen an den Schulen in Villingen-Schwenningen, Salzburg, Heidenheim, Nürtingen, Schopfheim, Freiburg, Vaihingen an der Enz und Hannover-Maschsee sowie -Bothfeld angehören.

HO | Das Singen und Tanzen zieht sich durch Ihre ganze Biographie, aber auch durch alle Schulklassen in Bothfeld. Wie kam das?

PL | Das Tanzen kam durch die Wandergruppe in das Schulleben hinein. Jeden Montagmorgen trafen wir Wandergrüppler uns eine Stunde vor dem Unterricht in der Turnhalle zum Tanzen. Irgendwann sind wir dann mit unseren Tänzen auf den Schulhof gegangen und das hat sich so ausgewirkt, dass viele Schüler mitgetanzt haben. Das war die Zeit der Schulhoftänze. Dazu ist auch ein Heftchen erschienen: »Zwölf Schulhoftänze«.

HO | Eine andere Fähigkeit von Ihnen ist das künstlerische Arbeiten, besonders das Schnitzen. Viele Kinder, die Sie bei der Arbeit auf dem Schulhof sehen, fangen in der Pause auch an, zu schnitzen und Steine zu bearbeiten.

PL | Schon als kleiner Junge wollte ich Bildhauer werden, während mein drei Jahre älterer Bruder Lehrer werden wollte. Nach einer vierjährigen Ausbildung zum Lehrer wurde er Soldat und fiel mit 19 Jahren in Frankreich. Statt seiner wurde ich dann Lehrer. Das war wohl unser Schicksal. Neben meiner Lehrertätigkeit habe ich immer geschnitzt.

HO | Sie und Ihre Frau haben sich an der Gründung der Kleinklassen beteiligt. Wie ist es dazu gekommen?

PL | Da waren Eltern, deren Kinder Schwierigkeiten hatten, und es gab einzelne Kollegen, die sich besonders eingesetzt haben. Meine Frau und ich sind eingesprungen, als für eine erste Kleinklasse nur fünf Kinder angemeldet waren und aus finanziellen Gründen auf die Einrichtung dieser Klasse verzichtet werden sollte. Da wir schon im Pensionsalter waren, boten wir der Schule an, die Klasse kostenlos zu führen. Im nächsten Jahr wiederholte sich die Situation. So sind wir beide noch Kleinklassenlehrer geworden und haben dadurch Erfahrungen gemacht, die man eben nur mit solchen Kindern machen kann. Ich hatte in der ersten Klasse einen Jungen, der zu verfestigten Vorstellungen neigte. An einem Wintertag war er nicht dazu zu bewegen, mit den anderen Jungen hinaus in den Schnee zu gehen. »Es ist zu kalt«, war seine eigensinnige Meinung. Da kam mir die rettende Idee. Ich sagte zu ihm: »Ich bin ein Schneehuhn und du bist ein Eisbär, komm, fange mich!« Im Nu waren wir beide draußen und ich musste ihm noch sagen: »Du hast ja deinen Pelz vergessen (den Mantel).« Dann ging die Jagd weiter, bis er mich gefangen hatte. Die »Kälte« war vergessen und er tollte mit den anderen im Schnee herum. So einfach konnte das kleine Rollenspiel ihn aus seiner Verfestigung befreien.

Ich möchte noch ein Beispiel dafür bringen, wie bildhafter Unterricht bis in den Schlaf hinein wirken kann. Im Deutschunterricht waren die Präpositionen zu behandeln, besonders beim Dativ und beim Akkusativ. Ich ging aus dem Klassenraum hinaus, setzte meine Pelzmütze verkehrt herum auf und kam als »Pferd« zurück. »Ich bin ein Pferd, Valentin, setze dich auf mich hinauf und sage: ›Ich setze mich auf das Pferd!‹ – « Als nächstes kam natürlich: »Ich sitze auf dem Pferd«. Dann folgte die schriftliche Umsetzung an der Tafel. Am folgenden Morgen erzählte mir ein Mädchen folgenden Traum: »Ich liege im Bett und höre plötzlich jemanden schwer die Treppe hinaufkommen. Dann geht die Tür auf und ein Pferd steht vor mir. Es fordert mich auf: ›Berit, setze dich auf mich drauf.‹« So wurde im Traum das bildhafte Unterrichtsgeschehen zur »Wirklichkeit«. Das sind glückliche Momente im Lehrerleben.

HO | Eine große Liebe verbindet Sie ja auch mit Russland.

PL | Ich bin seit frühester Kindheit mit den Kosakenliedern aufgewachsen und durch meinen kommunistischen Vater in der schönsten Weise mit Russland vertraut gemacht worden. Später habe ich alles, was Rudolf Steiner darüber gesagt hat, begierig aufgesogen. Diesem Impuls folgend, sind meine Frau und ich über einen Zeitraum von zehn Jahre immer wieder nach Sankt Petersburg gefahren, um im dortigen Waldorflehrerseminar Kurse zu geben. Mit der Wandergruppe haben wir drei große Wanderfahrten durch Russland gemacht. Darüber lernten wir die Waldorfschule Woronesch kennen, die wir seitdem als unsere Patenschule nach Kräften unterstützen. Ich war gerade für drei Monate dort und habe die Schwierigkeiten erlebt, die diese Schule durch staatliche und kirchliche Maßnahmen in schwere Bedrängnis bringen. Sie wurde in den letzten zehn Jahren gezwungen, fünfmal umzuziehen. Aber die Arbeit geht weiter.

HO | Wie sehen Sie die Zukunft der Waldorfschulen?

PL | Ich möchte das mit einem Wort von Jakob Böhme beantworten: »Die Morgenröte bricht an.«