Ein Einschnitt in der Mitte der Kindheit, der zu einem vertieften Ichgefühl führt – so beschrieb Rudolf Steiner den sogenannten Rubikon. Er eignet sich zwischen neuntem und elftem Lebensjahr und stellt einen spannungsreichen, zuweilen auch krisenhaften Übergang dar von der frühkindlichen, vertrauensvollen Mentalität hin zu einem kritischen Hinterfragen sowie einer Distanz zu allem Gewohnten und Liebgewonnenen. Für diese Phase des Umbruchs stellt die Waldorfpädagogik eine Brücke mit drei Säulen bereit, die über die Schwelle hilft und den Weg erleichtert in die als verändert wahrgenommene Welt. Die großen Epochen der dritten Klasse stellen diese drei Säulen dar.
Die Schöpfungsepoche führt aus dem Gefühl der göttlichen Verbundenheit heraus und in die mehr materialisierte Welt hinein, hinterlässt aber eine Ahnung davon: «Ich trage das Göttliche in mir und es verlässt mich nicht. Ich bin damit verbunden.» Die Ackerbauepoche stärkt das Erleben: Wir beackern unser Feld, sammeln schaffend Erfahrungen auf dem neu bereiteten Boden und wir stellen fest, dass ohne das göttliche Wirken durch Regen, Sonne und Wind nichts wächst auf meinem Beet.
Und dann kommt als letzter Schritt über die Brücke die Hausbauepoche. Wir bauen uns in die Welt ein, setzen ein Zeichen auf dem Schulgelände: Wir sind da! Metaphorisch gesprochen bauen sich die Kinder ihren Tempel, ummanteln sich mit einer neuen Hülle, die ihnen Kraft und Schutz gibt.
Innen und Außen
Wie haben sich das Innen und Außen dieser Bauepoche in meiner Klasse ausgewirkt? Von Anfang an standen für Eltern und Lehrkraft die Nachhaltigkeit des Projekts und die maximale Mitwirkung der Kinder im Vordergrund. Vor diesem Hintergrund kamen wir zu dem Schluss, das Bauprojekt unserer Patenklasse, der elften Klasse, zu renovieren. Vor acht Jahren hatten sie mit ihrer Klassenlehrerin ein Amphitheater gebaut. Die ehemals edlen Holzsitze waren jedoch inzwischen teilweise gammelig. Der Ort war von Pflanzen überwuchert und wirkte ziemlich verwunschen. So zeigten sich nach der Sichtung des Amphitheaters viele Aufgaben für das neue Bauprojekt. Die Sockel der Sitze mussten ausgebessert oder erneuert und mit Beton befüllt werden. Die Holzsitze mussten komplett erneuert werden. Es sollten auch Schreibgelegenheiten, also kleine Tische, entstehen. Der Mosaikboden des Amphitheaters sollte aufgefrischt werden.
Zwei Etappen
Zunächst wurden die Kinder während zweier Unterrichtswochen im Klassenzimmer vorbereitet. In einer weiteren Woche ging es dann draußen ans Werk. Der große Segen der Bauwoche war die Planungsgruppe der Eltern, die aus sieben Menschen bestand. Sie haben alles geplant, angeschafft, in die Wege geleitet und auch zeitlich begleitet. Die Planungsgruppe erarbeitete ein pädagogisches Konzept, wie innerhalb der Bauwoche jedes einzelne Kind ins Tun kommen und am Projekt arbeiten konnten. Dafür sollte es auf der Baustelle zwei Gruppen, die Beton- und die Holzgruppe, und im Klassenzimmer die Lehmhausgruppe geben. Alle Kinder sollten an allen Gruppen teilgenommen haben.
In der Bauwoche wurde meistens bis 12.40 Uhr, also bis nach der fünften Stunde, gearbeitet, die Eltern der Planungsgruppe schafften meist noch länger weiter, um den Kindern am nächsten Tag wieder die richtigen Bedingungen bereitzustellen.
Nach dem Morgenspruch und den Zeugnissprüchen blickten wir auf das Planungsboard, die Aufgaben und die Gruppen wurden eingeteilt und die Klebezettel von «to do» auf «doing» geklebt. Dann gingen die Kinder ans Tun. Am Ende des Arbeitstags wurde immer zurückgeblickt. Alle erledigten Aufgaben wurden abgehakt, der Klebezettel wanderte auf «done». Das war immer ein Erfolg.
Der Vater Elmar hatte für die Holzgruppe mehrere Schablonen erstellt, mit denen zwei Kindergruppen gleichzeitig die neuen Holzsitze herstellen konnten. Es wurde der verantwortungsvolle Umgang mit Werkzeug geübt, dazu gab es eine richtige Einführung. Jeder Handgriff saß. Die Kindergruppe, die den Umgang mit Werkzeug und Schablone bereits beherrschte, erklärte es der nächsten Gruppe. Elmar und andere Eltern, die die Arbeit beaufsichtigten, waren natürlich immer dabei. Dem Verschrauben der Sitze gingen Sägearbeiten und das Einölen des Holzes voraus.
«Du brauchst nicht helfen, Frau Greiling, wir erklären der neuen Gruppe genau, wie man mit dem Werkzeug und der Schablone umgeht», beruhigten mich meine Schüler:innen, die wie kleine Profis daherkamen.
Die Betongruppe entfernte zunächst den alten Beton aus den Sitzen. Dann wurden die Sitze ausgebessert und mit neuem Beton gefüllt. Dazu musste der Werkstoff erst angemischt werden. Das war ein Highlight. Am Ende arbeiteten Beton- und Holzgruppe zusammen und die Sitze und Tische wurden mit den Betonsockeln verschraubt.
Im Klassenzimmer folgte schließlich noch die Arbeit an den individuellen Miniaturhäusern. Die Gerüste dafür hatten die Eltern vorab zu Hause angefertigt. Die Kinder gingen ganz in der Arbeit auf. Meist war eine meditative Stille im Klassenraum. Jede:r arbeitete für und an sich, denn es gab durchaus frustrierende Momente zu bewältigen, zum Beispiel wenn eine zuvor mit Mühe gebaute Wand einstürzte. Es war sehr besonders zu sehen, wie sich in den Wänden und Formen der Häuser die jeweilige Persönlichkeit der Bauenden abbildete.
Am Ende waren alle Kinder sehr stolz auf das renovierte Amphitheater und die individuellen Häuschen. Die Kinder wirkten gestärkt und von innen heraus strahlend. Man konnte während des Projekts deutlich merken, wie die Kinder sich innerlich aufrichteten. Frei nach dem Motto: «Wir haben auf dem Schulgelände unser Zeichen gesetzt. Wir gehören jetzt voll dazu!»
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