Erst ein Gekritzel als Präludium und dann schon bald die perfekte Form: der Kreis! Beinahe das Erste, was wir als Kind aufs Blatt bringen, ist das Rund, mal als Abbild eines Gesichts oder der Sonne oder eines kosmischen Drehens. So wie das runde Gesicht die Einheit der Persönlichkeit zeigt, steht das Rund der Sonne für die eine Lebensquelle, für die Einheit unseres Seins. Und die Einheit ist es auch, die den Kreis oder seine Schwester, die Kugel, so faszinierend macht. Die Linie führt immer wieder in sich selbst zurück. Man kann den Kreis drehen, er bleibt doch, was er ist: das vollkommene Rund. Kreis und Kugel sind die vollkommenen Bilder der Symmetrie, denn mit Symmetrie meinen wir, dass eine Form, wenn sie gedreht oder gespiegelt wird, ihre Gestalt erhält. Kommt zum Kreis die Linie hinzu – im Falle des Gesichts etwa Mund oder Haare – ist es mit der vollkommenen Symmetrie geschehen. Die Linie bricht die Symmetrie – eine Art Geometrie des Sündenfalls also. Wie kommt dieser Gegensatz von Krumme und Gerade, von Himmel und Erde zusammen? Dort, wo die Natur ihre höchste Symmetrie, höchste Einheit feiert: in den platonischen Körpern. Für fünf Körper gilt, dass in jeder Ecke des Körpers jeweils gleich viele gleich lange Kanten zusammentreffen und an jeder Kante zwei regelmäßige Flächen gleicher Eckenzahl zusammenkommen. In diesen Körpern wird der Kosmos ganz Ding und behält doch seine Einfachheit und Symmetrie. Wohl deshalb haben Forschende und Kunstschaffende wie Pythagoras, Plato, Kepler oder Da Vinci sich diesen fünf kosmisch-irdischen Gestalten gewidmet. Plato ordnet sie den Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde und der Himmelsmaterie zu. Das überzeugte so, dass man die Körper nach dem Philosophen benannte. Kepler versuchte die Reihe der Planetenbahnen mit der Folge dieser Körper zu fassen.
Fünf Freunde
Doch zuerst die Antwort auf die Frage, weshalb es fünf sind – gewissermaßen fünf Freunde. Der Beweis ist elementar: Um einen Körper zu bauen, können in eine Ecke drei, vier oder fünf gleichseitige Dreiecke münden oder drei gleichseitige Vierecke oder drei gleichseitige Fünfecke. Das macht zusammen fünf Körper, das Einmaleins des Raumes: Tetraeder, Oktader, Ikosaeder, Hexaeder und Pentagondodekaeder. Fünf sind es. Es gibt also fünf Variationen in diesem Spiel von Himmel und Erde. Das ist interessanterweise auch die Anzahl, die sich im seelischen Spiel von Innen und Außen ergibt, in der Anzahl der Gefühle: Trauer, Angst, Freude, Wut und Scham zählt die Autorin Viviane Dittmar in ihrem Buch über die Gefühle und auch sie ordnet sie in ihrem Gefühlskompass den Elementen zu. Noch etwas: Fünf ist auch die Anzahl, die man bei einer Menge ohne zu zählen erkennt. Was Rudolf Steiner als jugendliches Glückserlebnis an der Geometrie beschrieb, das wird man wohl am besten nachfühlen können, wenn man nun in den Organismus dieser Fünf eintaucht und zeichnerisch einen Körper in einen anderen verwandelt. Beginnen wir mit dem Hexaeder, dem Würfel, und schneiden nun an allen acht Ecken Dreiecke ab, so als wäre der Würfel aus Butter und an allen Ecken schabt jemand mit dem Messer an einer der Ecken. Es wachsen Dreiecke und aus den ursprünglichen Quadraten werden Achtecke. Geht das Abschneiden weiter, berühren sich schließlich die Dreiecke und aus den Achtecken werden wieder kleinere Quadrate – der Hexaeder hat sich in den Kuboktaeder verwandelt. Weil dieser Körper jetzt aus zwei verschieden großen Flächen besteht, ist es kein platonischer, sondern ein archimedischer Körper. Ein besonders reizvoller Übergangskörper entsteht, wenn man fortfährt zu schneiden. Jetzt werden aus den Dreiecken Sechsecke, der Oktaederstumpf. Es ist das letzte Stadium, bevor der Oktaeder erscheint. Der Weg vom Würfel zum Oktaeder offenbart, dass beide Körper verwandt sind. Was der Würfel an Flächen besitzt, nämlich 6, hat der Oktaeder an Ecken. Umgekehrt entsprechen den acht Ecken des Würfels die acht Dreiecksflächen des Oktaeders, der nun innerhalb des Würfels auf der Spitze tanzt. Was in der Oberstufe dann in der Projektiven Geometrie als Gesetz der Polarität auftaucht, das können die Schüler:innen hier an der Verwandlung vom Würfel zum Oktaeder kennenlernen. Übrigens geht auch der umgekehrte Prozess: Schneidet man vom Oktaeder die Ecken ab, kommt ein eingeschriebener Würfel zum Vorschein. Was auch möglich ist: Man lässt auf den Flächenmitten Punkte schweben und immer höher steigen. Auch so wechseln sich Würfel und Oktaeder ab. Der gleiche Prozess, allerdings zeichnerisch anspruchsvoller, lässt sich vom Pentagondodekaeder zum Ikosaeder verfolgen. Der Tetraeder hat eine Sonderrolle. Er besitzt vier Flächen und vier Punkte und ist damit sich selbst polar. Wetzt man hier an den Ecken, bildet sich ein neuer Tetraeder. Ordnung und Schönheit reichen sich hier die Hände. Das erlebt man eindrucksvoll, wenn die einzelnen Körper mit feiner Schraffur gemalt werden – als wären sie aus Glas.
Geistige Gymnastik
Ein geometrischer Ausflug hat mich dabei schon im Studium begeistert: die Netzentwürfe: Wie lassen sich sechs Quadrate nebeneinander zeichnen und ausschneiden, so dass man einen Würfel falten kann? Hier übt man, fortwährend zwischen zwei und drei Dimensionen zu wechseln – Gymnastik für den Geist. Findet die Klasse alle elf Möglichkeiten? Wenn ja, folgen zwei Fragen: Findet man die elf Netzentwürfe des Oktaeders? Die melancholische Seite, also die kaum zu ergründende Tiefe kommt zu Wort, wenn ein:e Schüler:in fragt, ob wir auch vom Pentagondodekaeder herausfinden können, wie viele Netzentwürfe es gibt. Es sind 43.380. Wie interessant: Der Würfel hat elf Netzentwürfe und 13 Symmetrieachsen. Was für eine spielerische Art, das organische Gewebe der Zahlen bis in die Knochen aufzunehmen, wenn wir uns zeichnend-sinnend an den platonische Körper machen. Die hohe Schule ist dabei, rein in der Vorstellung die Transformation vom Würfel zum Oktaeder durchzuführen. Warum nicht mal solch eine mathematische Meditation im Unterricht?
Ein Becher Ewigkeit
Wer sich 30 Jahre später an seine Unterrichtszeit erinnert, wird vermutlich vergessen haben, wie man einen Dodekaeder konstruiert, wie man ihn in seiner Schönheit und Präzession aufs Blatt bringt. Er oder sie wird vergessen haben, mit welchem Faktor man schräge Linien verkürzt, so dass die Zeichnung die räumliche Illusion erfüllt. Man wird vergessen haben, wie sich Sternkörper und durchdringende platonische Körper konstruieren lassen. Was man nicht vergessen hat, was Teil des Lebensgefühls geworden ist, sind die Ehrfurcht, das Staunen über die stille Größe, die einfache Eleganz dieser Raumwunder, die daran erinnern, dass Kreis und Linie, Himmel und Erde sich gerne verbinden, sonst wären sie nicht so schön. Damit sind diese Formen uns Menschen so verwandt. Wir sind doch auch die Manifestation dessen, dass sich Himmel und Erde allzugerne verbinden.
Kommentare
Es sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar hinzufügen
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.