Ausgabe 11/23

Eine Erfahrung fürs Leben

Carolyn Zeck

Auf unserer Reise durch Mexiko vor ein paar Jahren haben wir uns in das Land und die Kultur verliebt. Vor allem das Essen hat es uns angetan! Die Mexikaner:innen sprechen oft von einem ganz besonderen Vitamin, dem vitamina T: Tortillas, Tacos, Tamales, Tortas, Tostadas und vieles mehr. Die Grundlage von allem ist der Mais, das heilige Korn der Maya und Azteken. Natürlich gibt es hier auch gesunde Vitamine, denn es wachsen ganzjährig verschiedenste Früchte und Gemüse. Auch Kaktus wird gegessen! Nopales – die (entstachelten) Blätter des Opuntiakaktus, sind eine gängige Beilage. Er ist neben dem Adler und der Schlange als Wahrzeichen auf der mexikanischen Flagge zu sehen.

Alles zu seiner Zeit

«Mal ein ganzes Schuljahr oder zumindest ein halbes in Mexiko verbringen! Das wäre doch toll!» Diese Idee kam im Frühjahr 2020 während des ersten Lockdowns auf. Schon seit einigen Jahren folgte ich auf Social Media der Escuela Waldorf de Cuernavaca. Mit eindrucksvollen Bildern und Berichten weckte sie meine Begeisterung. Diese Schule sollte es sein!

Von der Idee bis hin zur Reise sollten nicht zuletzt wegen der Pandemie noch über zwei Jahre vergehen. Als mein Mann eines Tages von der Arbeit kam und kundtat, er könne sich von seiner Arbeit freistellen lassen, wurde der Traum auf einmal real.

Es gab noch einiges zu erledigen: die Schule in Mexiko kontaktieren und etliche Gespräche über Zoom führen, Zeugnisse übersetzen und versenden, mit dem Klassenlehrer unserer Tochter sprechen – an dieser Stelle noch einmal vielen Dank für die unkomplizierte Bewilligung! –, eine Betreuung für unsere Katzen organisieren und zu guter Letzt natürlich unsere Wohnung untervermieten. Ende August 2022 saßen wir dann endlich auf gepackten Koffern. Nur noch ein halber Tag Flugreise trennte uns von unserem Abenteuer.

Leben und lernen mit allen Sinnen

Cuernavaca, im Volksmund aufgrund der vielen Schlaglöcher auch Cuerna«bache», also Cuerna-Schlagloch, genannt, liegt am Fuße eines Gebirges. Innerhalb der Stadt gibt es Höhenunterschiede von über 500 Metern. Zudem durchziehen mehrere barrancas (Schluchten) die Stadt, wo in den Regenmonaten im Sommer viel Wasser fließt. Daher gibt es auch mitten in der Stadt einen wunderschönen Wasserfall, den Salto de San Antón.

Die «Stadt des ewigen Frühlings» – wie Alexander von Humboldt Cuernavaca einst taufte – beschenkt ihre Bewohner mit einer reichen Flora und Fauna: zu jeder Jahreszeit blühen verschiedene Bäume und Sträucher. Ein tolles Farb- und Geruchserlebnis!

Auch mit Tieren, die es in Deutschland nicht gibt, machten wir Bekanntschaft: neben Skorpionen, Geckos und Leguanen, vielen Spinnenarten, riesigen Schmetterlingen und sehr lauten Grillen – «Wer macht denn hier sonntags so einen Krach?», fragte mein Mann einmal und dachte tatsächlich, jemand würde mit der Kreissäge Holz schneiden – trafen wir eines Abends auf dem Nachhauseweg auf zwei Cacomixtles (Katzenfrettchen), von denen wir nicht einmal wussten, dass sie existierten! Leider waren diese scheuen Wildtiere schnell wieder verschwunden, dass wir kein Foto von ihnen machen konnten.

Wenn man sich die Sinneslehre Rudolf Steiners anschaut, ist so ein Auslandsaufenthalt eigentlich perfekt für die Sinnesschulung, denn neben dem Seh-, Geruchs-, Geschmacks- und Wärmesinn werden auch die Willens- und Erkenntnissinne angesprochen. Vor allem, wenn man – wie meine Familie – eine Sprache neu erlernen muss. Unserem vierjährigen Sohn schien es am leichtesten zu fallen, Spanisch zu lernen. Nun, nach einem halben Jahr, spricht er in ganzen Sätzen. Auch unsere zwölfjährige Tochter hat ihre anfängliche Scheu überwunden und kann sich jetzt gut verständigen.

Seltsame Zufälle oder Bestimmung?

Da ich mit der Schule vereinbart hatte, im Handarbeitsunterricht zu assistieren, traf ich mich schon vor Schulbeginn mit der Handarbeitslehrerin der Primaria (Klasse 1 bis 6), Maestra Dulce, um Dinge für den Unterricht vorzubereiten. Es stellte sich heraus, dass wir Nachbarinnen waren! Und das in einer Stadt von fast 400.000 Einwohnern. Dulce ist schon seit mehr als zwanzig Jahren an der Schule tätig und konnte viele meiner Fragen beantworten.

Die Escuela Waldorf de Cuernavaca ist eine einzügige Schule, von der Krippe bis zur 9. Klasse. Die Klassen umfassen im Schnitt zwanzig Kinder. Für mich, die ich Englischlehrerin an der Freien Waldorfschule Mannheim mit mehr als 700 Schüler:innen war, also eine sehr überschaubare Schule, für Mexiko aber eine der größten! Leider gibt es im ganzen Land (noch) keine Preparatoria, also keine offiziellen Abschlüsse. Daher gibt es nur die neun Klassenstufen.

Unser Schulalltag begann Anfang September. Auf unserem täglichen Weg zur Schule konnten wir morgens eine schöne Aussicht auf den sechzig Kilometer weit entfernten Popocatépetl, den zweithöchsten Vulkan Mexikos, genießen.

Zurück zur Sinneslehre: mein Gleichgewichtssinn sollte am 19. September auf die Probe gestellt werden! An diesem Datum findet jährlich in ganz Mexiko ein Erdbeben-Alarm statt, da dieser Tag seit dem schweren Erdbeben 1985, bei dem etwa 10.000 Menschen ums Leben kamen, nationaler Gedenktag ist. Nun trug es sich zu, dass es 2017 am gleichen Datum tatsächlich ein sehr starkes Erdbeben gab, bei dem viele Häuser einstürzten. Die Zahl der Todesopfer lag damals bei etwa 400. Dank des Frühwarnsystems konnten viele Mexikaner:innen ihre Häuser noch vor dem Beben verlassen. Man mag es nennen, wie man will: nachdem am 19. September 2022 um 9 Uhr die Erbebenprobe problemlos verlaufen war, saßen wir im Unterricht mit der zweiten Klasse, als ich plötzlich leichten Schwindel verspürte. Ich schaute Dulce an und sie gab mir zu verstehen, dass es tatsächlich wieder bebte! Geistesgegenwärtig sagte sie den Schüler:innen, dass sie ihre Sachen liegen lassen sollten und wir nach draußen gehen müssten. Zum Glück verlief das Beben diesmal glimpflich, doch für viele Mexikaner:innen ist dieser Tag nun noch einmal mehr mit tiefsitzender Angst belegt.

Feste feiern wie sie fallen

Neben den waldorfüblichen Festen und Ritualen wie Sankt Michael, Erntedank, Sankt Martin, Adventsgärtlein und Weihnachten, feiern die Mexikaner zusätzlich den «Dia de los muertos» (Tag der Toten). Eigentlich sind es sogar zwei Tage: am 1. November wird der verstorbenen Kinder gedacht, am 2. November der Erwachsenen.

In der Schule gab es eine große Feier mit Aufführungen verschiedener Klassen. Alle kamen in traditioneller mexikanischer Kleidung. Der Elternchor, an dem ich begeistert teilnahm, sang zusammen mit Schüler:innen der Klassen vier bis neun mexikanische Lieder wie La Llorona und La Bruja. Das gesamte Schulgelände wurde bunt geschmückt und neben dem großen Altar errichteten die Klassen in ihren Räumen eigene Altäre zum Gedenken verstorbener Verwandter. Die Schüler:innen brachten Fotos, Kerzen, Früchte, Salz, Bohnen, Mais und die orange leuchtenden Cempasúchil-Blumen. Schon in den alten Kulturen Mexikos wurden sie als Repräsentantinnen der Sonne gesehen und sollten den verstorbenen Seelen den Weg zu den ofrendas (reich bestückten Altären) zeigen.

Nach den Aufführungen gab es ein großes Festmahl. Jede Familie hatte etwas zum Buffet beigesteuert und es war nach den zwei Jahren der Pandemie für die Schule die erste große Feierlichkeit. Dass die Menschen aus der Schulgemeinschaft diese Art des Zusammenkommens sehr genossen, konnte man spüren! Und es sollte nicht das letzte sein während unseres Aufenthalts.

Als Deutsche wunderten wir uns, dass der Nikolaustag hier überhaupt keine Rolle spielte. Kurzerhand beschloss ich, in der Klasse meiner Tochter Nikolaus zu spielen. Die Putzfrau half mir unerkannt kleine Päckchen mit Mandarinen, Nüssen und selbst gebackenen Plätzchen auf den Tischen der Sechstklässler:innen zu verteilen. Selbst die Klassenlehrerin konnte sich nicht erklären, woher sie kamen. Da es nirgendwo Schokoladen-Nikoläuse zu kaufen gab, buk ich zuhause kurzerhand selbst welche für meine beiden Kinder.

Gemischte Gefühle

Für unsere Kinder war es in der Schule aufgrund der Sprachbarriere und der ungewohnten Umgebung in den Anfangsmonaten nicht leicht. Unsere Tochter vermisste ihre Freundinnen und unsere Katzen und war verwundert, dass hier manches noch «waldorflicher» ist und es viele Regeln gibt, die sie nur schwer nachvollziehen konnte. So durfte sie zum Beispiel keinen Nagellack tragen. Manches war aber auch angenehm: ihre Klassenlehrerin war äußerst herzlich, es gab kaum Hausaufgaben, keinen Französischunterricht und in Englisch fand ein Briefaustausch mit einer kanadischen Schule statt.

Auch unser Sohn musste sich erst einmal in die neue Kindergartengruppe einfinden: er tat sich zunächst schwer damit, dass er der Älteste in seiner Gruppe war. Doch auch er kam bald mit der neuen Situation zurecht und spielte ausgelassen mit den anderen Kindern.

Ich persönlich empfand sowohl die Arbeitsatmosphäre als auch den Umgang der Lehrkräfte, Schüler:innen und Eltern miteinander als sehr angenehm und wertschätzend. Was mir besonders auffiel: Alle, auch die Lehrer, werden mit Vornamen angesprochen. Eine Besonderheit, die bestimmt sprachlich-kulturell verankert ist, doch diese Kleinigkeit schafft Nähe. Verschiedene Angebote für Eltern und interessierte Verwandte wie der Chor, ein Handarbeitskreis und ein anthroposophischer Studienkreis geben Raum für Begegnung und Integration in die Schulgemeinschaft. Das schön gestaltete und sehr grüne Schulgelände mit vielen Bäumen und kleinen Hütten als Klassenzimmern schafft eine wohlige Stimmung, und die Cafeteria bietet neben Frühstück die Möglichkeit zum Verweilen und Sich-Begegnen.

Mit einem weinenden und einem lachenden Auge sehen wir nun unserer baldigen Heimreise entgegen. Die vielen Erlebnisse und Eindrücke werden uns sicher noch lange begleiten. Der Abschied von den neu gefundenen Freunden und den Kindern in der Schule wird nicht leicht werden, doch natürlich freuen wir uns sehr auf unser Zuhause in Deutschland mit allem, was dazu gehört!

Informationen zur Schule:

www.escuelawaldorf.edu.mx

www.youtube.com/@escuelawaldorf

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