Mit Schwung stellt Malik seinen schweren Ranzen hinter sich ab. Dann setzt er sich zu Elfriede, legt den Arm um sie und beginnt, sie vorsichtig zu streicheln. Malik ist neun Jahre alt, Elfriedes Alter kennt man nicht. Gerade sind sich die beiden zum ersten Mal begegnet. Malik ist ein Schulkind, Elfriede ein Haushuhn. Ihr Aufeinandertreffen verdanken sie der Hortgruppe Allerleirauh aus Stuttgart. Da geht Malik jeden Tag nach der Schule hin. Neben einem Mittagessen und der Hausaufgabenbetreuung legen die Pädagog:innen dort besonders viel Wert auf Zeit an der frischen Luft. Klettern, rennen, Stelzen laufen, Tiere auf der Jugendfarm kennen lernen – die Gruppe geht jeden Tag ins Freie.
Die Gruppe, das sind 17 Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren. Derzeit haben 15 von ihnen einen Migrationshintergrund – fast 90 Prozent. Es gibt Kinder mit eritreischen Wurzeln, mit syrischen, türkischen, arabischen und griechischen, berichtet die Erzieherin Friederike Laiblin. Sie ist seit fünf Jahren mit dabei. Gegründet wurde die Einrichtung, zu der auch zwei Kindergartengruppen gehören, 1984. Die Geschichte des Vereins reicht aber bis in die 70er Jahre zurück, als Waldorfpädagog:innen den Impuls hatten, Waldorfpädagogik auch den Familien anzubieten, die sie nicht selbst suchen und wählen können. Die ersten Kontakte zu potenziellen Familien haben die Allerleirauhler:innen auf der Straße in der Arbeiter:innengegend Bohnenviertel geknüpft. 1986 wurde das Haus eingeweiht.
Der Zulauf ist groß. «Die Eltern schicken ihre Kinder zu uns, weil wir um die Ecke liegen, nicht weil sie sich eine Waldorfeinrichtung wünschen. Die meisten wissen noch nicht einmal, dass hier Waldorfpädagogik gelebt wird oder was das ist. Und das ist okay so. Das war ja die Idee dahinter», erzählt Laiblin. Die Eltern würden merken, dass die Art und Weise, wie im Allerleirauh mit den Kindern umgegangen wird, ihnen guttut. Und Laiblin findet, das ist genug. Ganz wichtig ist, dass das Angebot für die Eltern bezahlbar ist, sie bezahlen die gleichen Beträge wie in vergleichbaren städtischen Einrichtungen. Die Einrichtung muss im Wesentlichen mit dem auskommen, was das Jugendamt an Mitteln zur Verfügung stellt. Den Mehrbedarf decken Spenden. Verschiedene Stiftungen fördern das Projekt, mitunter aber auch Privatpersonen. Vorhaben, wie die geplante Erneuerung der Küche, seien aber nur so realisierbar. Elternarbeit und Elternmitarbeit sehen im Allerleirauh anders aus, als das bei Waldorfs üblich ist. Elternabende, bei denen die Hintergründe der Pädagogik vermittelt werden, gibt es nicht. Hier und da mal ein Einzelgespräch schon. «Vorsichtige Versuche, zum Beispiel die Sache mit der Handynutzung noch mal zu Bedenken zu geben, unternehmen wir schon. Ganz wichtig dabei ist es aber, nicht die Moralkeule rauszuholen. Das ist ja eine weitverbreitete Waldorf-Krankheit, dass wir immer alles besser wissen», moniert Laiblin. Möglichkeiten, sich in die Gestaltung der Einrichtung miteinzubringen, hätten die Eltern kaum. Der Vorstand zum Beispiel ist nicht mit Eltern besetzt. Und auch den Alltag inklusive der Festgestaltung müssen die Pädagog:innen im Wesentlichen alleine stemmen. Jede von ihnen hat ihr Steckenpferd, ihren Verantwortungsbereich. «Miriam kümmert sich immer um die Lebensmittelbestellung, ich sorge für die jahreszeitliche Gestaltung. Generell ist uns eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe sehr wichtig. Hierarchien versuchen wir zu vermeiden, wo es geht», erzählt Laiblin. Immer montags kommt die ehemalige Kollegin Ursula Lapropoulos vorbei. Sie hat sich im vergangenen Jahr in den Ruhestand verabschiedet, übernimmt aber noch einmal wöchentlich das Kochen.
Es ist vielmehr so, dass sie und ihre Kolleg:innen nicht selten sogar Aufgaben übernehmen, die untypisch sind für ihren Arbeitsbereich. «Aktuell haben wir ein syrischstämmiges Kind mit großen Sprachdefiziten und einem akuten Förderbedarf. Die Eltern sind aber schlicht überfordert damit, die Hilfe zu organisieren. Also begleiten wir zum Arzt und auch zur Ausländerbehörde», beschreibt Laiblin den Alltag. Möglich ist das dank eines ungewöhnlich guten Betreuungsschlüssels von 1 zu 6. Die 17 Kinder im Allerleirauh werden von drei Pädagog:innen betreut. «Horte, die unmittelbar an große Schulen angeschlossen sind, können schon mal einen Schlüssel von 1 zu 90 haben», weiß Laiblin.
Trotzdem hat die Einrichtung Allerleirauh es zunehmend schwer, Personal zu finden. «Wir tun viel, sehr viel für die Kinder und ihre Familien und das danken sie uns auch. Aber wir erfahren nicht die Form von Wertschätzung, die man sonst aus Waldorfeinrichtungen kennt. Das ist auch gar nicht möglich, denn ich kann ja nur wertschätzen, was ich kenne und verstehe. Und unsere Eltern haben kaum eine Idee davon, was wir hier machen, wie und warum», sagt Laiblin. Besonders für Berufsanfänger:innen, die viel Bestätigung brauchen und suchen, sei das hart. Kompensiert werden, so denkt sie, kann das vor allem durch die eigene innere Gewissheit, dass das, was im Allerleirauh gelebt wird, wichtig, wertvoll und gut für die Kinder ist. «Diese Gewissheit wächst mit der Zeit und der Erfahrung. Die kann am Anfang des Berufslebens noch gar nicht so stark ausgeprägt sein», meint Laiblin.
Den größten Beweis dafür, wie wertvoll die Arbeit ist, die sie und ihre Kolleg:innen jeden Tag leisten, liefert für Laiblin aktuell Fatima, die die Hortgruppe im Rahmen eines Bundesfreiwilligendienstes unterstützt. Die 17-Jährige war selbst einmal Kind im Allerleirauh, kommt aus dem Viertel, ist mit sieben Geschwistern aufgewachsen und hat wie die meisten Jungen und Mädchen dort einen Migrationshintergrund. Laiblin meint, Kindergarten und Hort hätten der jungen Frau eine richtig gute Grundlage geschaffen: «Sie ist so tough, dass sie den Alltag hier mit links meistert. Sie ist eine große Unterstützung für das Kollegium und das ist wahnsinnig schön mitzuerleben», sagt sie anerkennend.
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