Der zweite Weltkrieg setzte ihrer Kindheit ein radikales Ende. In allerletzter Sekunde floh sie im April 1945 mit einem Treck vor den Truppen der Roten Armee. Unmittelbar zuvor war sie bei einem einsamen Ausritt von einem Tiefflieger angegriffen worden, der sie für Schießübungen ausgesucht hatte. Die Flucht und der Verlust ihrer Heimat erschienen ihr so unerträglich, dass sie sich bei der Elbüberquerung bei Glückstadt »mit der letzten Fähre inmitten eines Fliegerangriffs« auf das Deck stellte und inständig hoffte, von einer Fliegerbombe getroffen zu werden.
Mit ihrer Familie fand sie bei Verwandten im Kehdingerland an der Elbmündung Zuflucht und ersetzte zusammen mit anderen dort die polnischen Landarbeiter, von denen sie »sowohl die Flöhe als auch die Feldarbeit« übernahm. Im Herbst übersiedelte sie zu ihren Großeltern mütterlicherseits in die Nähe von Hannover.
Ihre Eltern bauten einen »kleinen, aber feinen« Hof auf und Alheidis konnte auf dem Nachbargut eine Landwirtschaftslehre durchlaufen. Als Gehilfin setzte sie ihre Ausbildung an der Landwirtschaftlichen Hochschule Stuttgart-Hohenheim fort und zog als Fachkraft für Tierzucht und Tierernährung wieder nordwärts.
Sie bekam eine Anstellung an der landwirtschaftlichen Forschungsanstalt in Braunschweig-Völkenrode und musste dort Fütterungsversuche mit Hormonpräparaten durchführen. »Für meine Vorgesetzten war ich ein echter Schmerz im Nacken« erinnert sie sich, »weil ich sowohl die Tierhaltung auf kleinstem Raum als auch die Fütterungsversuche mit Hormonen für falsch hielt und das auch sagte. Gehör fand ich damit allerdings nicht.«
Lebensretter »Geheimwissenschaft«
Die Sinnlosigkeit dieser Versuche wie auch eine wachsende Verzweiflung darüber, dass sie nirgendwo substanzielle Antworten auf ihre Fragen nach dem Sinn oder Unsinn des Lebens fand, ließen den Entschluss in ihr reifen, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Während sie sich darauf vorbereitete, begegnete sie ihrem späteren Mann Hans Jörg Graf von Bothmer, dem sie sich nach einigem Zögern anvertraute und der ihr daraufhin aus Rudolf Steiners »Geheimwissenschaft im Umriss« vorlas – allerdings »aus lauter Redlichkeit ausgerechnet mit dem Vorwort begann«, wie sie erzählt. Bothmer warf das Buch entnervt in eine Ecke ihres Zimmers. Einige Tage später, als sie zum letzten Mal aufräumen wollte, zog sie es mit dem Besen unter ihrem Schrank hervor und fand es aufgeschlagen bei dem Kapitel »Schlaf und Tod«. Sie begann zu lesen. »Das rettete und bereicherte mein Leben von nun an«, sagt sie. Kurze Zeit später gab sie ihre Stelle auf und zog mit Hans Jörg an den Niederrhein, wo sie ihn 1950 heiratete.
Nach einer Zwischenstation auf dem Dottenfelder Hof bei Bad Vilbel zog die junge Familie in das Pestalozzi-Kinder- und Jugenddorf in Wahlwies am Bodensee. Dort wurde sie Hausmutter einer großen Familie mit zwölf Kindern, zu denen auch ihre beiden eigenen Kinder gehörten. Ihr Mann übernahm die Leitung des Kinderdorfes.
Ins Mark getroffen
Eines Morgens verstellte ihr der Landwirt des Dorfes den Weg und sagte: »Sie sind der schlimmste Ignorant, den ich kenne!« Auf ihre verblüffte Frage, warum, verwies er darauf, dass ihr Schwiegervater Fritz Graf von Bothmer auf Anregung Rudolf Steiners eine Gymnastik entwickelt habe, deren Namen sie sogar trüge, für die sie sich aber offenbar überhaupt nicht interessiere. Ihr Mann hatte die Bothmer-Gymnastik nie erwähnt, obwohl er seinen Vater sehr verehrt hatte. Deshalb waren ihre Kinder bereits dreizehn und vierzehn Jahre alt, als es zur ersten Begegnung kam. Ein einziges Mal hatte sie an der Waldorfschule Uhlandshöhe einer Präsentation beigewohnt, die sie allerdings ebenso abgestoßen hatte »wie die damals übliche Geruchsmischung aus Knoblauch, Arnikaöl und Schweiß« im Publikum. Auch bei dieser zweiten Aufführung war sie erleichtert, als sich die Bühne wieder leerte. Doch dann trat ein einzelner, schöner Mann auf die Bühne und zeigte einen einzigen, äußerst präzisen Bewegungsablauf, der sie »bis ins Mark« traf und ihre Sehnsucht weckte, mehr über diese Gymnastik zu erfahren.
Obwohl es unter den damaligen Bedingungen fast unmöglich schien, fuhr sie parallel zu ihrer Hausmuttertätigkeit am Bodensee regelmäßig zur Ausbildung nach Stuttgart. Nach ihrem Abschluss unterrichtete sie sieben Jahre lang alle Klassen, Lehrlinge und die Mitarbeiter, die es wollten, im Kinderdorf.
Im Dreieck springen
Während einer Geometrie-Stunde, als sie das »Dreieck« einführte, bemerkte sie, dass einige Kinder die Übung sehr schnell aufgriffen, während andere »es einfach nicht packten«, wie Bothmer erzählt. Bei genauerem Hinsehen entdeckte sie, dass alle Kinder, die in ihrem 13. Lebensjahr waren, gerne und schnell in den Bewegungsablauf eintauchten, während die jüngeren oder älteren Kinder damit nur wenig oder gar nichts anfangen konnten. Mit wachsender Erfahrung zeigte sich ihr immer deutlicher, »wie genau die einzelnen Übungen der Bothmer-Gymnastik dem Entwicklungsstand der Kinder angemessen sind«. Dem Einwand, dass die heutigen Kinder in ihrer Entwicklung gegenüber der Entstehungszeit der Bothmer-Gymnastik deutlich akzeleriert seien, hält sie entgegen, das treffe auf ihre intellektuelle Wachheit, seelische Entwicklung und manche physiologischen Prozesse zu, nicht aber auf das Wachstum der Knochen und Muskeln. »Die Anatomie des Menschen ist auf der ganzen Welt gleich«; sagt sie: »Wir wohnen alle in der gleichen Kirche, ganz gleich, ob wir in der Mongolei, in Afrika oder sonst wo auf die Welt gekommen sind.« Bei der Bothmer-Gymnastik gehe es darum, dass der Mensch sich frei im Raum aufrichten und orientieren könne. »Wenn ich das erkannt habe, kann ich mich mit den Menschen verbrüdern, ganz gleich, wo ich hin- oder sie herkommen«, schwärmt Alheidis.
1974 siedelte Gräfin Bothmer nach Stuttgart über und unterrichtete an den meisten anthroposophischen Seminaren Jugendliche und Erwachsene in Einzelstunden oder Gruppen. In enger Zusammenarbeit mit Ärzten studierte sie auch die medizinisch-therapeutischen Wirkungen der Bothmer-Gymnastik. Noch in den sechziger Jahren gründete ihre Lehrerin Gretl Krause-Eppinger die Graf-Bothmer-Schule für Gymnastik. 1977 wurde Gräfin von Bothmer selbst an die Schule berufen und unterrichtete dort bis zum Jahr 1999.
Opfer des eigenen Erfolgs
Kurz vor der Jahrtausendwende erlebte die Schule einen Ansturm aus den osteuropäischen Ländern, versäumte es aber, Vorauszahlungen für die Kursgebühren zu verlangen. Wegen der ausbleibenden Zahlungen musste die Schule trotz erfolgreicher Arbeit schließen. Dennoch gelang es der Namensträgerin dieser Gymnastik, sie nach einer Phase der Stagnation wieder zu neuem Leben zu erwecken. Heute gibt es Ausbildungen im In- und Ausland. An vielen Waldorfschulen ist die Bothmer-Gymnastik in den Bewegungsunterricht integriert.