Eine literarische Entdeckungsreise nach Ägypten

Sabina Farmanova, Inas Saleh, Astrid Lütje, Meike Bischoff

Es trafen sich in Stuttgart vier literaturinteressierte Pädagoginnen, um genau dies zu versuchen: anhand einer literarischen Erzählung die Weltperspektive eines anderen Menschen kennen zu lernen und sich darüber auszutauschen. In der gemeinsamen Textarbeit wurde das jeweils individuelle Textverständnis durch die Sichtweisen der anderen Teilnehmerinnen ergänzt und vertieft. Es schälten sich nach und nach immer weitere Sinnschichten heraus, die ein reicheres und tieferes Erleben des Textes ermöglichten. Zugleich entwickelten sich schöne, bereichernde Begegnungen unter den Teilnehmerinnen.

Der gewählte Text »Der Stuhlträger« stammt von dem ägyptischen Autor Jussuf Idris (1927-1991). Literatur aus Ägypten oder anderen arabischsprachigen Ländern ist – von einigen Ausnahmen abgesehen – bei uns wenig bekannt. Dies liegt – da zahlreiche arabischsprachige Werke gut übersetzt und leicht zugänglich sind –, nicht an einer mangelnden Verfügbarkeit, sondern vermutlich an einem erst gering entwickelten Impuls, sich überhaupt mit arabischer Literatur zu beschäftigen. Indem wir im Folgenden unsere etwa einstündige Entdeckungsreise in die Sinnschichten des »Stuhlträgers« dokumentieren, möchten wir dazu anregen, sich lustvoll auf eigene Erkundungsgänge in diese Literatur zu begeben. Und auch für den Unterricht in der Mittel- und Oberstufe liegt hier noch ein großes Potenzial verborgen, sei es in Literatur, Philosophie, Geschichte oder Geographie.


Der Stuhlträger

Zu einer nicht näher benannten Zeit erblickt ein Passant auf den Straßen von Kairo einen schmächtigen Mann, der einen riesigen, prachtvoll gestalteten Stuhl trägt. Eigenartigerweise scheint außer diesem Passanten niemand die Situation für ungewöhnlich zu halten. Der Stuhlträger erzählt, er trage diesen Stuhl seit vielen tausend Jahren auf Geheiß von Ptach Raa (einem altägyptischen Schöpfergott) und nun suche er ihn, um mit seiner Erlaubnis den Stuhl wieder absetzen zu dürfen. Dem Passanten ist Ptach Raa unbekannt. Er versucht auf verschiedene Weise, den erschöpften Mann von seiner Last zu befreien, doch vergeblich. Da er nicht im Auftrag von Ptach Raa handelt, kommt ihm in der Sichtweise des Stuhlträgers keine Autorität zu. (Die ganze Geschichte können Sie hier herunterladen.)


IS | Ich habe den Text auf Arabisch gelesen. Die Beschreibung von Kairo – die Straße der Republik, der Opernplatz – das kenne ich alles. Der Text ist 1969 geschrieben, direkt nach dem Sechstage-Krieg, in dem die Ägypter die Halbinsel Sinai verloren haben. Deshalb hat mich der Text sehr tief berührt. Aber ich habe ihn nicht mit Bezug auf die 60er Jahre gelesen, sondern mit aktuellem Bezug. Ich rezipiere ihn symbolisch. Das Wort »Stuhlträger« bedeutet auf Arabisch etwas anderes als auf Deutsch. Es bezeichnet nicht jemanden, der zufällig einmal einen Stuhl trägt, sondern es ist eine Berufsbezeichnung. »Träger« ist ein Beruf, ein Träger trägt Dinge für Geld.

SF | Bei mir ist die erste Assoziation, dass in dem Text sehr viel Energie steckt. Ich bemerke, dass mein Puls höher steigt, je weiter ich lese. Der Text ist sehr stark in der Wortwahl.

MB | Ich bin beeindruckt von dem Humor, der da drinsteckt. Ein Stuhl ist dazu da, Menschen zu tragen, nicht von ihnen getragen zu werden. Es ist unglaublich, was da drinsteckt als Aussage, sozusagen eine umgedrehte Welt. Aber wie es gesagt wird, ist eigentlich – ja, ich kann nur sagen: humorvoll. Durch die Sprache ist eine große Vielschichtigkeit präsent, sie kommt einem fast physisch entgegen. Schon allein diese Reihen: »das Wunder – das größte Wunder – die eigentliche Katastrophe« oder »das Merkwürdigste, das Seltsamste und das Bestürzendste«. Die Zwischenräume sind so besonders aussagekräftig.

SF | Bei den Zeilen »Glaubt mir, bei allen Heiligen, ich lüge nicht und ich übertreibe auch nicht …« könnte ich mir auch ein Land im Kaukasus vorstellen, denn auch dort übertreibt man immer. Auch die vielen Adjektive zeigen, dass das in einem östlichen Raum passiert. Die Mentalität lässt sich hindurchspüren. Die Sprache ist sehr bildhaft – farbige Bilder.

AL | Für mich ist es eigentlich ein erzählter Text. Man sitzt im Kaffeehaus und dann kommt der Geschichtenerzähler: »Glaubt es oder glaubt es nicht …« – es wird ein Bezug zum Leser hergestellt, man fühlt sich sofort eingenommen. Wir sehen den Stuhlträger durch den Erzähler und durch ihn machen wir innerlich eine emotionale Bewegung mit. Am Anfang hatte ich Mitleid mit dem Stuhlträger – so ein armer Mann, er trägt diesen riesigen Stuhl und ist doch nur so groß wie ein Stuhlbein. Mir kamen Bilder der armen Landbevölkerung – »der Schweiß hatte Rinnen und Furchen auf den Körper gezeichnet« – ein Bild der Ausbeutung. Doch als der Erzähler »mit überschäumender Freude« dem Träger die Anweisung vorliest, die am Stuhl befestigt ist, aufgrund derer er den Stuhl seit Jahrtausenden trägt, obwohl sie ihm erlaubt hätte, ihn gleich wieder abzusetzen, und dieser ihm nicht glaubt, da verstand ich zunächst nicht, warum er die Erlösung nicht annimmt. Auch der Erzähler fragt ja, warum der Träger den Stuhl nicht absetzen kann. Es steht doch auf dem Stuhl geschrieben, dass er ihn absetzen darf – aber er trägt ihn seit Jahrtausenden. Zum Schluss blieben nur viele Fragen.

IS | Der Text hat auf jeden Fall eine Spannung und die Spannung steigt mehr und mehr. Aber er macht mich irgendwie ärgerlich. Am Anfang habe ich auch mitgefühlt mit dem Stuhlträger. Und dann wurde ich wütend, weil er das nicht akzeptiert, dass es kein Befehl mehr ist. Ganz am Ende sagt er sogar: »Ihr haltet einen bloß auf, verflixt noch mal. Die Last ist schwer, und die Zeit läuft mir weg.« Er will nicht nur die Wahrheit nicht akzeptieren, sondern er beschwert sich sogar darüber, dass seine Zeit verschwendet wird. Er will diese Wahrheit nicht hören, er will taub bleiben. Das ärgert mich.

MB | Derjenige, der ihm das sagt, was als Wahrheit bezeichnet wird, hat keine Befugnis. Er taucht auf von irgendwo. Und solange das nicht klar ist, wer spricht und dass er dazu befugt ist, solange kann der Stuhlträger es nicht annehmen. Das ist ganz tief erschütternd und gewiss kein ausschließlich ägyptisches Phänomen. Wie weit verbreitet ist das? Inwieweit sind wir immer noch nicht weitergekommen auf der Welt?

AL | Wir stehen jetzt auf der Seite dessen, der mehr weiß, der die Schrift gelesen hat, der den Stuhlträger erlösen, befreien will. Aber er könnte ja auch ein Scharlatan sein. Und der Träger empfindet vielleicht: Nein, ich habe meinen Auftrag, meinen Befehl, meine Aufgabe und der bleibe ich treu. Ich lasse mich nicht verführen von irgendjemandem, der mir irgendetwas sagen will und der behauptet, er hätte etwas gelesen, wovon ich gar nicht weiß, ob es eigentlich stimmt.

SF | Ich war auch verärgert, aber nur bis zu dem Moment, wo der Stuhlträger sagt: »Ich bin Träger, und der Stuhl hier ist mir überantwortet, und für Überantwortetes trägt man die Verantwortung.« Plötzlich habe ich die Position gewechselt und dachte: Er hat Recht, er hat die Verantwortung übernommen. Er hat sie angenommen und er trägt sie solange, bis jemand kommt, der die Befugnis hat, sie ihm abzunehmen.

MB | Verantwortung – wofür? Einen Stuhl zu tragen? Und wer ist der Auftraggeber? Wer ist dieser Ptah Raa?

IS | Der Name Ptah Raa hat im Arabischen keine Bedeutung. Es ist ein pharaonisches Wort. Er war kein König. Jussuf Idris hat nicht Echnaton geschrieben oder Ramses. Ptah Raa war in der altägyptischen Religion
ein Schöpfergott.

AL | Dann wird ja auch verständlich, warum er dem dahergelaufenen Ich-Erzähler nicht glauben kann. Denn der kann ja nicht behaupten, die gleiche Befehlsgewalt zu haben wie der Sohn des Sonnengottes.

IS | Aber dafür opfert er sein Leben! Er trägt den Stuhl jetzt seit Tausenden von Jahren. Vielleicht hat ihm schon früher jemand den Text vorgelesen. Denn er war nicht überrascht, er war ganz ruhig, als er ihn hörte.

AL | Die Frage ist: Ist es wirklich ein Opfer – auch wenn es von außen so aussieht? Oder ist es die Erfüllung seiner Aufgabe? Vielleicht eine heilige Pflicht, der Sinn seines Lebens? Das erkennt vielleicht der Ich-Erzähler gar nicht, dass da vor ihm einer ist, der einen Gottesauftrag erfüllt.

IS | Ich habe das nicht als heiligen Auftrag gelesen, sondern nur als Job. Er ist ein Träger und er wird dafür bezahlt: »Ich trag ihn herum für mein täglich Brot.« Und das solange, bis Ptah Raa ihm etwas anderes befiehlt. 

MB | Ich sehe vor mir ein Bild von dem Textinhalt als Ganzes: eine Meeresschnecke, deren Spirale in eine Spitze hinaufläuft. Die Spirale beginnt in der gewöhnlichen Welt, wo der Träger den Stuhl herumschleppt. Und die Spitze ist eben: Wer bist du? Wo hast du deine Aufgabe gefunden? Es ziseliert sich doch die Frage heraus: Was ist ein Auftrag, den man in seinem Leben hat? Wie steht man dazu? Denn dieser Auftrag ist irrsinnig, er ist absurd. Es geht nicht um das Tragen dieses mächtigen Stuhles. Dieser Text ist durch den Stuhl im äußeren Physischen ganz festgelegt. Aber überhaupt nicht festgelegt ist er in dem, was wir als Menschen sind. Wo ist die Aufgabe? Finde ich sie durch die Götter? Finde ich sie in mir? Es ist lächerlich, diesem »Onkel« (Ptah Raa) treu zu sein. Wer weiß, wer das überhaupt ist. Für mich steht die Frage im Mittelpunkt: Wer bin »Ich«?

SF | Ich finde es schön, dass am Ende diese drei Fragen auftauchen: Soll ich ihm die Last entreißen oder soll ich ihn bloß bedauern oder soll ich mir selbst Vorwürfe machen? Wenn ich den Drang verspüre, jemandem zu helfen, heißt das nicht, dass derjenige wirklich Hilfe braucht. Das gilt auch, wenn man das Stuhltragen als Symbol betrachtet und es eine politische Bedeutung gibt.

IS | Ein Schlüssel zum Verständnis des Textes als politische Aussage war für mich die Aussage des Stuhlträgers: »Alt oder neu, ich bin einfach Ägypter.« Das heißt: Ich bin ein Symbol für alle, die in Ägypten leben. Jussuf Idris engagierte sich immer für die »Vergessenen«, für Menschen, die in der Gesellschaft ganz unten leben: für die Bauern in den kleinen Dörfern auf dem Land, für die armen Menschen in den engen Gassen von Alt-Kairo. Deswegen sehe ich den Text als politisches Symbol für die Zeit, in der die Geschichte geschrieben wurde, 1969. Das ist die Zeit nach dem Sechstage-Krieg, nach der Niederlage. Es war eine furchtbare Zeit. Diese Beschreibung, wie der Träger den Stuhl seit ewigen Zeiten trägt, obwohl er von seinem Körperbau her sehr schwach ist – sein ganzer Körper sieht ja von weitem aus wie ein fünftes Stuhlbein – das habe ich mit der damaligen Zeit verbunden. Die Leute haben damals sehr viel gelitten. Der Stuhl ist für mich ein Herrschaftssymbol. Jussuf Idris – er hat Medizin studiert und als Arzt gearbeitet – kennt die Ägypter sehr gut. Er zeigt hier, dass die Ägypter von Natur aus daran gewöhnt sind, unterdrückt zu sein und das anzunehmen, was man nicht annehmen soll. Man sollte ja nicht den Herrscher tragen und bedienen, sondern umgekehrt! Aber bis heute ist es so, dass in Kairo der Herrscher wie ein Pharao ist. Man darf ihn nicht kritisieren und man nimmt das gerne an, regiert zu werden von jemandem, der zeitlos regieren kann.

AL | Zum Schluss schwingt fast Bewunderung mit, wenn der Erzähler den davongehenden Stuhlträger beschreibt: »Der Mann war ein weiteres Mal zu seinem fünften Fuß geworden, schmächtig, aber doch kräftig genug, ihn zu tragen.«

MB | Die Erzählung fängt ja ganz in der Tradition des arabischen Erzählens an. Das Wunder und die Katastrophe sind sehr nah beieinander. Und kein Mensch außer dem Erzähler hat es wahrgenommen, nur er sieht es – »glaubt es oder glaubt es nicht«. Am Ende steht dann das Ich: »Ich stand da und betrachtete ihn, wie er sich entfernte, keuchend, stöhnend, schweißüberströmt.« Eines meiner eindrücklichsten Erlebnisse in Ägypten war eine fünftägige Reise auf einem Segelschiff nilaufwärts. Tage der Stille, zeitloses Gleiten. In dieser Stille und dem überwältigenden Grün des Flussufers zogen Menschen ihres Weges wie in einem silbrigen Licht. Wie seit Urzeiten in weißem, weitem Gewand, geschnittenes, aufgehäuftes Zuckerrohr auf vier zierlichen Eselsfüßchen, bewegten sie sich gemessen wie das unter dem großen Sonnenbogen unablässig nach Norden strömende gewaltige Wasser. Ein Blick in die Welt- und die Menschengeschichte. Ist nicht dieser Stuhlträger auch ein Bild der Menschheit? Der Erzähler »stand da und betrachtete ihn.« Der Mensch der heutigen Zeit stellt Fragen. Aber das andere, das ist ein Raunen aus langen Zeiten. Mir kribbelt’s über den Rücken, wenn ich diesen Text lese. Aber ich habe kein Mitleid mit diesem Träger, keine Spur davon, denn ich erlebe eine Wirklichkeit, aber es ist nicht die heutige, sondern eine überzeitliche. Und durch die Art, wie erzählt wird, treten diese Bilder auf.

Die Gesprächspartner: Sabina Farmanova arbeitet als Russischlehrerin an der FWS Essen; Inas Saleh, ist Sozialberaterin an einer Frauenberatungsstelle in Frankfurt am Main; Astrid Lütje ist Oberstufenlehrerin für Geographie, Kunstgeschichte, Deutsch und freien Religionsunterricht an Waldorfschulen tätig. Meike Bischoff, ehemalige Lehrerin an der FWS Stuttgart-Uhlandshöhe für Französisch und Deutsch.