Ausgabe 05/25

Eine Nacht lang durch Magdeburg wandern

Gabriele Ebeling


Jugendliche auf ihrem Weg ein Stück zu begleiten, gehört zu den Aufgaben der Tutor:innenschaft in der Oberstufe. Immer wieder beobachte ich dabei, wie Neuntklässler:innen entweder versuchen, den Anforderungen gerecht zu werden oder sich ihnen entgegenzustellen. Letzteres geschieht meist aus Provokation, wenn sie das ihnen Gebotene nicht akzeptieren können oder sie sich nicht als erwachsen wahrgenommen fühlen. Ich erlebe es als etwas Existenzielles in dem Alter, dass immer wieder Grenzen ausgelotet werden, der Lehrkraft gegenüber, den Mitschüler:innen gegenüber oder im Umgang mit sich selbst.  Grenzen auszuloten, Grenzen zu überschreiten, um sich wahrzunehmen und um sich zu finden, das erwies sich mir als eine wichtige Erfahrung auf dem Weg des Erwachsenwerdens. Deshalb bewegte mich der Gedanke, wie kann ich für die Schüler:innen Erlebnisse schaffen, die ihnen helfen, Kraft und Zuversicht zu entfalten, um eigene Wege zu finden?

Im Gespräch mit einer Kollegin einer Berliner Waldorfschule erfuhr ich von einer Aktion, die sie mit Schüler:innen durchgeführt hatte, eine 40 Kilometer lange Wanderung durch das nächtliche Berlin. Dieses Projekt begeisterte mich und ich begann mich gedanklich damit zu beschäftigen, so etwas auch mit meinen Neuntklässler:innen durchzuführen. Gespräche mit Kolleg:innen bestärkten mich, die Vorbereitung zu starten.

In einer Unterrichtsstunde beschrieb ich den Schüler:innen, was ich über eine solche Nachtwanderung gehört und überlegt hatte. Vor allem die Jungen waren sofort Feuer und Flamme. Aber auch einige Mädchen lockte das Abenteuer. Schließlich informierte ich auf einem Elternabend über meine Idee, beschrieb den pädagogischen Hintergrund und den Organisationsprozess. Die Eltern zeigten keine großen Bedenken, sodass ich nun weiter an die Umsetzung des Projektes ging.

Zuerst fuhr ich eine Strecke mit dem Fahrrad ab. Dann lief ich diese Strecke gemeinsam mit Kolleginnen in der Nacht ab, um den zeitlichen Rahmen abzustecken. Letztendlich wurde der Termin, ein Donnerstagabend Ende Mai, festgelegt. Ich hatte mich für diese Jahreszeit entschieden, da die Nächte kurz waren und die Temperaturen nicht noch eine zusätzliche Herausforderung schufen. Der Wochentag Donnerstag spielte deshalb eine Rolle, da der Stundenplan meiner neunten Klasse am Freitag keine große Belastung darstellte.
Die Schüler:innen konnten sich entscheiden, ob sie sich der Belastung aussetzten oder nicht. Auch gab es die Möglichkeit, sich während der Wanderung von den Eltern abholen zu lassen, sofern einen die Kräfte verließen. Diejenigen, die nicht teilnehmen wollten, sollten sich für das Frühstück in der Schule verantwortlich zeigen. An die Wanderung anschließend war die Unterrichtsteilnahme bis 10.00 Uhr verpflichtend. Ich hatte im Vorfeld das Fachkollegium informiert, was wir uns vorgenommen hatten, sodass vor allem der Fachlehrer, der zu diesem Zeitpunkt den Hauptunterricht hielt, auf die Situation eingestellt war. Ich erwartete am Ende unserer Wanderung eine große Aufregung, eine Stimmung, die von Stolz und Freude über das Geschaffte gekennzeichnet sein würde, dann aber auch eine Müdigkeit, da die Nacht doch ein hohes Potenzial an physischer Kraft verbraucht hätte. Das musste jede unterrichtende Lehrkraft der Klasse an diesem Tag berücksichtigen.

Von 24 Schüler:innen nahmen 21 teil. Wir trafen uns um 23.00 Uhr am Donnerstag und gingen los. Wir liefen durch die Stadt, kleine Gassen, dunkle Gartenwege, Hauptstraßen sowie durch einen der größten Parks der Stadt. Jede Tankstelle auf unserem Weg galt als ein Punkt der Rast. Wir gingen gemeinsam, ohne Handy und Musik - das war Bedingung. Auf unserem Weg stellten wir fest, wie belebt Magdeburg noch bis 1.30 Uhr war. Wir sahen Rehe mitten in der Stadt und machten nie die Erfahrung von völliger Finsternis. Zwischen 2.30 und 3.30 Uhr konnten wir wahrnehmen, dass es besonders kalt wurde. Gegen 4.00 Uhr schwanden bei einigen die Kräfte, jedoch halfen der Sonnenaufgang und die gefühlte Nähe der Schule. Immer wieder gab es spontane Einlagen der Schüler:innen, entweder Akrobatik auf menschenleeren Straßen, Gesänge oder Ruhepausen, in denen sie sich lang ausgestreckt auf Fußwegen rekelten. Gegen 6.30 Uhr waren wieder alle in der Schule angekommen. Eine große Erleichterung machte sich breit, Gespräche und Anekdoten wurden ausgetauscht, ein beständiges Lachen erfüllte unseren Frühstücksraum. Als um 8.00 Uhr der Unterricht begann, waren alle Teilnehmer:innen noch festen Willens, den Unterricht aufmerksam zu verfolgen. Das schafften jedoch nicht alle. Einige gingen um 10.00 Uhr nach Hause, andere hielten sogar noch bis 12.00 Uhr in der Schule durch.

Fazit


Alle 24 Schüler:innen haben Stärke bewiesen. Drei von ihnen hatten die Stärke, ihre eigenen Grenzen zu kennen und sich gegen die Wanderung entschieden, obwohl sie ahnten, hier vielleicht ein wesentliches Gruppenerlebnis zu versäumen. Die anderen 21 haben die Erfahrung gemacht, etwas zu schaffen, was im Vorhinein als Herausforderung empfunden wurde. Ich wünsche mir, dass es den Schüler:innen gelingt, das Potenzial, das sich auf dieser Wanderung gezeigt hat, weiterzuentwickeln und zu festigen.

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