Ausgabe 07/08/25

Eine neue Aufklärung im Blick

Anne Brockmann


Das Atom geht zurück auf á-tomos – nicht schneidbar, nicht teilbar. Das Individuum auf seinen gleichnamigen Vorfahren, klein geschrieben: in-dividuum. Vom Verb dividere kommend, heißt es in Kombination mit der verneinenden Vorsilbe ebenso nicht teilbar. «Wie sind Existenz und Leben verschränkt?» «Sind Atome Bausteine der Natur oder Elemente einer Beschreibung?» «Ist ein pluralistischer Realismus denkbar?» «Wie ist es und was heißt es, ein Mensch zu sein?» Im Rahmen der Bildung für nachhaltige Entwicklung stellte das Lehrer-Duo im vergangenen Schuljahr sein Pilotprojekt Kontextbasierte Zugänge zum Atom, das ihre Fachgebiete miteinander verbindet, in einem Online-Oberstufencampus zur Diskussion. Sie haben gemeinsam ein Konzept für einen hybriden Wahlpflichtunterricht in der elften Klassenstufe entworfen und erprobt. Schüler:innen aus Marburg und aus Kassel erschlossen sich dadurch gemeinsam das Atom.

Expeditionszeiten und Freiräume


Begonnen hat alles mit einem Aufruf im +3-Magazin der Süddeutschen Zeitung im Jahr 2022. Gefragt waren Visionen für eine bessere Schule. Sommer reichte eine Skizze ein. «Die Schule von morgen braucht eine neue Aufklärung. Junge Menschen bilden sich dort, indem sie ihr kulturelles Erbe und ihre natürlichen Lebensgrundlagen wertschätzen lernen», heißt es darin. Und: «Sie haben den Mut, ihren Verstand in dialogischer Weise zu gebrauchen. Sie erleben sich als ein verkörpertes Subjekt, das sowohl Natur ist als auch eine natürliche Umgebung hat. Neuem begegnen sie mit einem einfühlenden wie analysierenden Blick.» Deshalb werden «Expeditionszeiten» vorgeschlagen, die den Schüler:innen den «Freiraum für wegweisende Miniaturen» geben. Konkret bedeutet das: Schüler:innen und Lehrkräfte kommen einmal wöchentlich live zusammen, aber online. Die Lernenden wählen sich nach Interesse ein, sie schalten sich aus unterschiedlichsten Schulen und Städten zu. Ihre Lehrkräfte begleiten sie, wenn sie die Anregungen aufarbeiten und weiterverfolgen. Fragen werden zurückgegeben und in der kommenden Woche aufgegriffen.

Unverbundenes zusammenführen


Rohde und Sommer wollen mit ihren Lehrveranstaltungen ein naturwissenschaftlich-erkenntnistheoretisches Angebot zu gängigen Prüfungsstoffen schaffen. Das Atom bietet dafür eine spannungsreiche Ausgangslage. «Auf der einen Seite gibt es den phänomenologischen Zugang, der als ein nicht rein reduktionistischer Ansatz im Epochenunterricht dominiert und beispielsweise in Österreich von den Lernenden als besonders motivierend erfahren wurde», berichtet Sommer. «Auf der anderen Seite wird das Atom vielerorts in den Prüfungsvorbereitungen pragmatisch und knapp eingeführt und rein reduktionistisch behandelt. Dieser Ansatz wurde in den vergangenen Jahren mehrfach auf den alljährlichen Treffen der deutschsprachigen Waldorf-Chemielehrkräfte diskutiert. Die Erfahrungen zeigen, dass die Lernenden den Zugang zu Beginn durchaus als abstrakt erleben, ihn dann aber bald wegen seiner Erklärungsmächtigkeit schätzen», ergänzt Rohde. Beide Zugänge würden oft immer noch unverbunden nebeneinanderstehen, haben die beiden Lehrer beobachtet. Dabei gab es im Waldorfumfeld bereits zu Lebzeiten Rudolf Steiners den sogenannten «Atomismusstreit», eine wissenschaftliche und philosophische Debatte über die Existenz und den Charakter von Atomen. Und in der Wissenschaft werden seit jeher Versuche unternommen, die Frage nach dem Atom zu präzisieren. Auch Rohde und Sommer sehen ihr Pilotprojekt als «Versuch, durch einen Wahlpflichtunterricht in der elften Klasse das Spannungsverhältnis zu bearbeiten». In ihren hybriden Lehr-Lern-Veranstaltungen thematisieren sie das Atom zunächst als Element einer Beschreibung und nicht direkt als Instanz einer Begründung.

Die Roomies und die Zoomies


Die Lehrveranstaltung Kontextbasierte Zugänge zum Atom wurde in der Pilotphase für ein halbes Jahr im Umfang von zwei Doppelstunden pro Woche angeboten – verteilt auf zwei Quartale. Im Fach Physik fanden sie im ersten Quartal unter der Leitung von Wilfried Sommer in der Freien Waldorfschule Kassel in Präsenz statt. Sie wurden nach Marburg übertragen und dort vor Ort von einer Physik-Lehrkraft betreut. Anschließend erlebten umgekehrt die Teilnehmenden aus der Freien Waldorfschule Marburg im zweiten Quartal unter der Leitung von Dirk Rohde die Lehrveranstaltungen im Fach Chemie in Präsenz und die Teilnehmenden aus Kassel online. In Kassel wurden sie vor Ort von Wilfried Sommer betreut. Sowohl in Marburg als auch in Kassel kamen Kameras mit vorprogrammierten Einstellungen zum Einsatz. Sie waren insbesondere auf die Tafel, das Flipchart und den Bildschirm des Klassenraums, aber auch auf ausgewählte Positionen der Experimentiertische ausgerichtet.

Ein gutes Mikrofon stellte sicher, dass Beiträge der Teilnehmenden auch am Ort der Übertragung gut verständlich waren. Eine weitere Kamera war sowohl in Marburg als auch in Kassel auf die Lerngruppen ausgerichtet, sodass die Lernenden an einem Ort sich jeweils einen Eindruck von der Situation am anderen Ort machen konnten. «Während der Darstellung von Inhalten standen wir als Lehrende vor der Herausforderung, zwei Lerngruppen im Blick zu behalten, die ‹Roomies› und die ‹Zoomies›. Das konnte durch einen Monitor, der über einen gesonderten Zoom-Zugang nur die Lerngruppe des anderen Ortes zeigte, wesentlich erleichtert werden. Die ‹Zoomies› bekamen so einen größeren Stellenwert», berichtet Sommer.

Ein Tor zum globalen Lernen


Sein Kollege Rohde ordnet nach dem Ende der Pilotphase ein: «Die Frage, ob Atome Bausteine der Natur oder Elemente einer Beschreibung sind, lässt sich noch immer weder mit einem Ja noch einem Nein beantworten – stellt sie doch eine große naturphilosophische Frage dar, bei der die Begriffe Substanz, Kausalität und Wechselwirkung eine zentrale Rolle spielen.» Die Dimensionen schulischen Lehrens und Lernens würden allein dadurch schnell gesprengt werden. Im Zentrum von Rohdes und Sommers didaktischen Bemühungen steht das Vorhaben, reduktionistische Positionen zum Atom in Kontexte einzubetten, die nicht rein reduktionistisch angelegt sind. Mit diesem Vorgehen wollen sie «einen Diskussionsbeitrag zu dem zu leisten, was derzeit gerne als ‹neue Aufklärung› gefordert wird.

Als Highlight in der Evaluation haben viele Teilnehmende nach Wochen der digitalen Begegnung die letzte Unterrichtseinheit erlebt. Die fand für alle Beteiligten in Präsenz statt. «So konnten sich alle zumindest einmal persönlich wahrnehmen. Das könnte für ein länderübergreifendes Projekt eine interessante Herausforderung darstellen, hätte es doch längere Reisen zur Folge, die sich ihrerseits wiederum für spannende Anschlussunternehmungen eignen. Das hybride Lehr-Lernformat könnte so auch das Tor zu einer spezifischen Form globalen Lernens bilden», resümiert Rohde und denkt dabei zugleich in die Zukunft. 

Hier beschreiben Wilfried Sommer und Dirk Rohde ausführlich Ideen, Vorgehen und Ergebnisse: download

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