Kunstbetrachtung kann – mit Herzblut, Kreativität und Leidenschaft vermittelt – eine spannende, bildende und inspirierende Sache sein. Das gilt vor allem dann, wenn auf die Theorie die Praxis folgt. Viele Waldorfschulen kämpfen derzeit allerdings mit hohen Kosten und einer dünnen Personaldecke, sodass die Kunstabschlussfahrt und das praktische Erleben der besprochenen Kunst nicht überall angeboten werden. Trotzdem gibt es schöne Beispiele, wie die Kunstabschlussfahrt gelingen kann und für die Schüler:innen zur Inspiration fürs Leben wird. Im Unterricht lange besprochene Kunstwerke vor Ort mit eigenen Augen zu sehen, sie auf sich wirken zu lassen und sie in der eigenen Interpretation zu zeichnen, aus Stein zu hauen oder ganz andere Wege der Umsetzung zu finden – das sind kostbare Impulse für die persönliche Entwicklung. Dasselbe gilt für das gemeinsame Bestehen von Abenteuern im Klassenverband, das Ertragen von Hitze, einem steilen Fußweg sowie dem einen oder anderen Fehlschlag. Das beweisen die Freien Waldorfschulen Landsberg und Frankfurt/Oder mit ihren ungewöhnlichen Kunstfahrten.
Perspektivenwechsel
Mitte Juni steht die Fahrt in die Toskana unmittelbar bevor und Nina Trebien, Kunstlehrerin an der Freien Waldorfschule Landsberg, ist voller Vorfreude. Museen und Kirchen in Florenz sind gebucht, die Aufregung wächst. Uffizien und Dom-Kuppel werden sie in diesem Jahr nicht besichtigen. «Zu viele Touristen! Die Schüler:innen sollen die Kunstwerke von Brunelleschi, Donatello und Michelangelo in Ruhe auf sich wirken lassen», begründet die Künstlerin ihre Entscheidung.
Einen der Schwerpunkte legt Trebien auf Brunelleschi. «Er hat verloren gegangenes Wissen aus der Antike entdeckt und im 15. Jahrhundert die Zentralperspektive zu einem wesentlichen Gestaltungselement gemacht. Mit der Fluchtpunktperspektive rückt der individuelle Standpunkt in die Wahrnehmung. Die Ansicht ändert sich mit der Position. Ein wichtiger Aspekt für Schüler:innen, die sich gerade selbst im Leben verorten.»
Auch die Fresken Giottos sollen die Klasse vom Mittelalter ins Jetzt führen. «Fast wie ein Theaterstück» muten diese Malereien laut Trebien an. «Die Entdeckungskraft, gerade mit Schüler:innen, ist so riesig, dass man einen Vergleich zur Aufbruchstimmung der 70er-Jahre in New York ziehen kann.»
Generell liegt das Thema Entdecken der Kunstlehrerin am Herzen. «Wenn ich mit Neuntklässler:innen ganz ohne Handy ins Museum gehe, fordere ich sie als erstes auf, die anderen Besucher:innen zu beobachten. Viele von ihnen stehen vor einem Kunstwerk und fotografieren es. Dabei haben wir die Abbildung doch bereits zigfach vorliegen! Die Schüler:innen begreifen dann, dass es um etwas ganz anderes geht. Zum Beispiel um die Fragen: Warum sind wir hier? Was machen wir mit Kunst? Und was macht diese mit uns?»
Weibliche Schöpfungskraft
Einen besonders scharfen Blick fordert die Künstlerin von ihren Schüler:innen, wenn es um die Rolle von Frauen in der Kunst geht. «Es fängt doch schon in der Literatur an. Ich kenne kein Buch, das Frauen in der Kunst gleichwertig berücksichtigt. Natürlich gibt es Bücher über Künstlerinnen. Aber auf Augenhöhe sind diese nicht.» Aufschlussreich wird es, wenn Trebien auf die vielen unerkannten und unbekannten Frauen hinweist, die zu Lebzeiten bedeutende Werke geschaffen haben: Ehefrauen und Töchter von namhaften Künstlern, finanziell unabhängige Frauen, die das Handwerk von der Pike auf gelernt haben und Nonnen. Deren Namen kennt heute fast niemand. «Viele von ihnen haben im Auftrag ihrer Klöster umfangreiche, bedeutende Werke geschaffen. Eine Aufgabe der Schüler:innen bei unserer Kunstfahrt ist es, diese weibliche Seite der Kunst zu begutachten und sich selbst ein Urteil zu bilden: Kann, darf oder soll man Kunst aufgrund des Geschlechts der Schaffenden bewerten?»
Diese Fragen lässt Trebien ihre Schüler:innen bei der Kunstfahrt selbst beantworten. Dazu sollen sie mit offenen Augen durch Florenz gehen. Überall stößt man nach Ansicht Trebiens dabei auf überbordende, vor Kraft strotzende, dominierende Männlichkeit, «mit Muskeln an Stellen, wo der menschliche Körper gar keine Muskeln hat», erklärt sie lachend. Das Frauenbild lächelt den Betrachter:innen ihr zufolge aus Statuen und Malereien dagegen bescheiden, jungfräulich, betont weiblich und lieblich entgegen. Dabei war das, gerade in Florenz, nicht immer so: «In der Antike unterteilte man die männliche und weibliche Rolle noch nicht so stark wie in der Renaissance. Das galt auch für Florenz und dafür gibt es hier ein schönes Beispiel: Siena führte einst Krieg gegen Florenz. Nach dem florentinischen Sieg stand ein Standbild von Donatello sinnbildlich für die Stadt – an zentraler Stelle, direkt am Piazza der Signoria vor dem Palazzo Vecchio. Es zeigte Judith, die im Begriff war, Holofernes zu köpfen. Donatello schuf sie zwar mit zarten Zügen, aber doch mutig und entschlossen. Damit konnte sich die Bevölkerung wunderbar identifizieren. Leider lief Michelangelos meterhoher David Judith 1504 gleich wieder den Rang ab. Er dominierte mit seinen sechs Tonnen sofort den Platz und die Köpfe der Besucher:innen. Judith wanderte in eine schattige Ecke am Rand. Und das ist bis heute so.»
Nach Trebiens Meinung beeinflussen diese Darstellungen der Renaissance bis heute unsere Ideale von Mann und Frau – in Form von kühnen, unerreichbareren Helden einerseits und auf Unterwürfigkeit und Erotik reduzierte Weiblichkeit andererseits. Im Raub der Sabinerinnen wird diese Dualität deutlich. «Im Grunde genommen wird hier auf schönste Art eine Vergewaltigungsszene verherrlicht. Solche Bilder verfestigen sich und überdauern die Jahrhunderte. Wir sind in unseren Köpfen immer noch genau da. Der nächste Bewertungsschritt steht erst noch an. Wenn die Schüler:innen begreifen, wie viel das alles mit uns zu tun hat und wir das weiterführen müssen, dann ist die Kunstfahrt schon zum Teil geglückt.»
Brocken fürs Leben
Der andere Teil entsteht rund eine Stunde Fahrt außerhalb von Florenz in einem alten Gehöft auf einem Hügel, Santa Maria di Ferrano. Ein Kunstverein unterhält es als Jugendherberge – ein magischer Ort.
Eine Stunde Fußmarsch bergauf wandert die Klasse in diese Unterkunft «umgeben von Olivenhainen und Wildschweinen», so Trebien. Hier dient auch eine alte Kapelle als Unterrichtsstätte. «In vollen Räumen vor Ort in Florenz möchte ich die Konzentration nicht zerreden», beschreibt die Kunstlehrerin ihr Konzept. Sie stellt die Kunstwerke, die sie gemeinsam besuchen, lieber vorher in der Kapelle mit Plakaten vor. «Damit können sich die Schüler:innen in Ruhe darauf einlassen.»
Doch noch etwas geschieht hier auf dem Hügel: Aus Marmorsteinen werden Kunstwerke. «Alle haben diesen Brocken vor sich. Und damit ist nicht alles planbar. Man arbeitet daran – und plötzlich bricht ein Stück ab. Da ist der Schreck groß, und den Schüler:innen bleibt nur, das zu akzeptieren. Was weg ist, ist weg. Da kann ich nichts mehr ausrichten.» Für die Künstlerin ist das ein entscheidender Punkt. Ihrer Meinung nach muss man eine solche Situation zulassen können – wie bei vielen Aufgaben und Herausforderungen im Leben. Man muss sich die Frage stellen: «Wie gehe ich dieses Ding jetzt an?» Schließlich müsse man auch im Leben ungeplante, neue Situationen meistern. «Nach zwei Wochen habe ich dann etwas geschafft und muss das Ergebnis akzeptieren. Das ist der Abschluss der Fahrt und gleichzeitig eine gute Vorbereitung auf den Schulabschluss und das weitere Leben.»
«Wie können wir uns eine Kunstfahrt, an der die ganze Klasse teilnimmt, überhaupt noch leisten?» Diese Frage stellten sich Kunstlehrerin Lilianna Kusmierska und das Kollegium der Freien Waldorfschule in Frankfurt/Oder schon vor ein paar Jahren. «Dann kam Corona. Klassenfahrten rückten zunächst einmal in weite Ferne, aber wir wollten den Jugendlichen trotzdem eine Freude machen. Sobald es möglich war, haben wir uns deshalb nach möglichen Zielen umgeschaut. Dabei sind wir ganz praktisch vorgegangen und haben überlegt: Was kann unser Kollegium bewältigen? Und was können Eltern finanzieren und den Jugendlichen trotzdem noch ein Taschengeld mitgeben? Die Antwort lautete anschließend aus vielen Gründen: Krakau!»
Wenn es um die traditionsreiche Stadt in Polen geht, gerät die gebürtige Polin Kusmierska ins Schwärmen. Doch das war nicht immer so. «Ich habe in Krakau studiert. Damals habe ich es fast gehasst. Alles war wegen der Luftverschmutzung grau. Die Stadt ist sehr alt. Sie war zwar im Krieg nicht zerstört worden, aber in einem schlechten Zustand. Das hat sich zum Glück komplett geändert. Jetzt sieht es hier ganz anders aus: Krakau wird von Jahr zu Jahr schöner, die Stimmung und Architektur ähneln Prag. Heute ist Krakau Klein-Florenz – eine sehr alte und geschichtsträchtige, gleichzeitig, aber junge und lebendige Stadt, die ständig weiterwächst.»
Tourismus? Nein, Danke!
Dass die Zwölftklässer:innen diese besondere Stimmung aufnehmen, liegt der studierten Grafik-Designerin Kusmierska besonders am Herzen. «Es gibt das Bonmot, dass man das wahre Gesicht einer Stadt erst nach dem Besuch von 20 Bars erkennt. Deshalb unternehmen wir Streifzüge durch die Stadt und schauen: Was essen die Menschen, worüber unterhalten sie sich? Wir wollen nicht als Touristen unterwegs sein. Das mache ich nicht.»
Sie bucht deshalb auch keine Pauschalangebote, sondern organisiert und verhandelt auch die Preise im Alleingang. «Mir macht das Spaß – und die Schüler:innen können sich dadurch etwas mehr leisten. Natürlich sind die Preise in Krakau auch hoch, aber nicht wie in Barcelona oder Paris.» So steht außer Museen und Kirchen auch der Besuch von Kaffeehäusern auf dem Stundenplan. Zugute kommt vielen Schüler:innen dabei, dass sie in der Frankfurter Waldorfschule als zweite Fremdsprache auch Polnisch wählen können und dadurch leichter in den Kontakt mit Einheimischen kommen.
«Die Krakauer Kaffeekultur ist legendär», schwärmt Kusmierska. Ob hier tatsächlich der Cappuccino erfunden wurde, darüber streiten sich zwar die Geister. Die Schüler:innen aus Frankfurt schnuppern davon unbeeindruckt trotzdem begeistert Kaffeehausluft. Mit auf diesen Streifzügen dabei sind die Skizzenblöcke. Auf ihnen halten die Schüler:innen das Leben auf der Straße, die berühmten Jugendstilfassaden oder architektonische Elemente der Stadt fest. Ob sie die ausgewählten Kunstwerke oder Szenen zeichnen oder lieber schriftlich beschreiben, bleibt ihnen dabei selbst überlassen.
Denn für Kusmierska ist auch Schreiben eine Kunst. «Sie sollen sich einfach etwas aussuchen, das ihnen leicht von der Hand geht. Das ist das Wichtigste.»
Mit Glas Hand anlegen
Eine weitere Krakauer Besonderheit, die die Klasse kennenlernt, ist die weltberühmte polnische Glaskunst. «Schon lange vor der Fahrt besprechen wir im Unterricht immer wieder die Kunstwerke in Krakau. Wenn wir dann aber zum Beispiel in der Franziskanerkirche stehen, sind alle tief beeindruckt.» Der polnische Künstler Stanisław Wyspiański schuf Ende des 19. Jahrhunderts die Malereien im Chor und Querschiff. Von ihm stammt auch der Entwurf für die berühmtesten Jugendstilfenster Polens, die ebenfalls hier zu finden sind. So dass rund 16 Meter hohe Farbglasfenster Gott Vater – Werde! «Davon sind die Schüler:innen immer sehr begeistert», meint Kusmierska. Viele skizzieren die für eine Kirche außergewöhnlichen, expressionistischen Fenster.
Beim Betrachten der Glasfenster belässt es die Kunstlehrerin jedoch nicht: Damit die Schüler:innen diese Kunstform auch begreifen, hält Kusmierska engen Kontakt zu einer Glasmanufaktur. «Hier dürfen die Schüler:innen mit professionellen Werkzeugen mit der Tiffany-Technik Kunstwerke bauen und damit auf Wyspiańskis Spuren wandeln. Die bunten Ergebnisse werden zuhause als individuelle Mitbringsel sehr geschätzt.»
da Vinci in Krakau
Ein weiterer Höhepunkt in Krakau ist für Lehrerin und Schüler:innen die Czartoryski-Sammlung im gleichnamigen Museum. Das älteste Museum Polens beherbergt eine bedeutende Kunstsammlung, laut Kusmierska vergleichbar mit den Sammlungen in Paris. Das berühmteste Kunstwerk ist sicher Leonardo da Vincis Die Dame mit dem Hermelin. Davon sind auch solche Schüler:innen beeindruckt, die sonst wenig Berührung zu Kunst haben. Dasselbe gilt nach Kusmierskas Ansicht auch für das Wahrzeichen Krakaus: die Marienkirche am Markt, die Mitte des 13. Jahrhunderts geweiht wurde und zu den ältesten gotischen Kirchen in Krakau zählt.
Rafting als Abschluss
Nach dem Aufenthalt in Krakau verbringt die Klasse noch zwei Tage im wildromantischen Kurort und Naturpark in Szczawnic. «Hier haben die Schüler:innen Zeit, ihr Berichtheft zu vervollständigen und noch mehr zu zeichnen», erläutert Kusmierska. «Es gibt Raum und Zeit für soziale Aktivitäten. Die Landschaft ist wunderschön, die Luft glasklar. Ein Höhepunkt ist hier sicher auch das Rafting auf dem Fluss Dunajec. In Kombination mit den vielen Eindrücken aus Krakau sind das am Ende Erlebnisse, die fürs Leben bleiben.»
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