Ausgabe 07-08/23

Eine weiße Welt in einem braunen Land

Sven Saar

Esteban wuchs in einer Familie der Mittelschicht in Buenos Aires auf, wohlbehütet und nach eigenen Angaben in einer privilegierten Blase: «Meine Waldorfschule war eine weiße Schule. Mütter mit brauner Hautfarbe, die dort als Putzfrauen arbeiteten, konnten sich das Schulgeld nicht leisten.» Dennoch ist er dankbar: «Ich hatte eine schwierige Zeit in der Oberstufe, aber die Lehrer:innen wollten mich dabei haben.» Die Erfahrungen, die er als begabter, lästiger, aber geschätzter Schüler machte, wurden Motivation für seinen Entschluss, selbst Lehrer zu werden: «Ich wollte etwas zurückgeben, mein Privileg nutzen.»

Esteban nahm nach einem Lehramtsstudium an einer dualen Waldorfausbildung teil, während er in einer Schule in Buenos Aires als Lehrassistent arbeitete. In Patagonien im Süden Argentiniens wurde er Klassenlehrer an der neu gegründeten Waldorfschule in Neuquén, einer stark industrialisierten Gegend, gekennzeichnet vom Bergbau und der Ölförderung. Das Klima ist rau, sowohl meteorologisch als auch sozial: Kalte Winde wehen hier unangenehmer als im kultivierten Buenos Aires. Neun Jahre lang wurden Esteban und seine Frau, ebenfalls Klassenlehrerin, von Pionierkraft getragen. Dann wurden sie selbst Eltern und konnten es nicht verantworten, ihre Kinder unter diesen Bedingungen aufzuziehen. Während der Pandemie, als Ängste und Einschränkungen soziale Disharmonie und psychische Probleme offenlegten, starben drei Schüler:innen in kurzer Folge, zwei davon durch Selbstmord. Die Familie zog nach Córdoba. Das Leben ist jetzt sicherer und ruhiger. Und doch fühlt Esteban ein Unbehagen angesichts der immer noch herrschenden sozialen Ungerechtigkeiten: «Neuquén hat mich vieles gelehrt, nicht zuletzt die Fähigkeit zu hinterfragen, wie ich mit der Welt umgehe.» Er folgt dem Prinzip von Sumak Kawsay, einem neuen Quechua-Ausdruck, der manchmal als «buen vivir» ins Spanische übersetzt wird: gut denken und gut fühlen, um dann gut zu handeln. Es ist eine Art pragmatischer, ökologischer Sozialismus, der nicht der westlichen sozialistischen Theorie folgt und in die Regierungsphilosophien Boliviens und Ecuadors übernommen wurde.

Die historisch starken, deutschen Traditionen der argentinischen Waldorfbewegung beurteilt Esteban skeptisch: Dort herrsche immer noch eine gut gemeinte, aber limitierende, koloniale Haltung vor: «Meine jetzige Schule ist immer noch eine blonde Schule.» Während der Weltlehrer:innentagung stellt er in den Seminaren am Goetheanum scharfsinnige Fragen, freundlich, aber herausfordernd. Menschen wie Esteban sind Katalysatoren des Wandels: energisch, hoch qualifiziert, mit kontextueller, relevanter Erfahrung von sozialer Ungerechtigkeit und zunehmend unwillig, Antworten zu akzeptieren, die keine Lösungen anbieten.

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