Ein frostiger Montagmorgen in Engstingen, einer kleinen Gemeinde südlich von Stuttgart. Draußen glitzert der erste Reif auf den Feldern der Schwäbischen Alb, drinnen, in der Freien Waldorfschule, herrscht nicht nur dank der Heizung wohlige Wärme. Es sind die lebhaften Stimmen von Schüler:innen und Praktikumsbetreuer:innen, die den Raum füllen. Sie sprechen über eine besondere Zeit: im zweiten Halbjahr der zehnten Klasse und im ersten Halbjahr der elften Klasse arbeiten die Schüler:innen jeweils ein halbes Jahr lang an zwei Tagen pro Woche in unterschiedlichen Betrieben – und sammeln Erfahrungen, die prägen.
Zimmerei, Schlosserei, Zahnarztpraxis, chirurgische Klinik – die Betriebe, in denen die Schüler:innen tätig sind, sind sehr verschieden. «Ich war in einer Zimmerei und einer Schlosserei», erzählt Aurelian. «Die Arbeit in der Zimmerei war oft auf der Baustelle, mit Holz und tragbaren Maschinen. In der Schlosserei war alles schwerer, härter – Stahl zu bearbeiten ist eine ganz andere Herausforderung.»
Für Fabia eröffnete die Arbeit beim Kieferchirurgen eine ungewohnte Perspektive. «Ich durfte bei kleineren Eingriffen assistieren, Zähne ziehen und sogar mal an einem Zahn eine Füllung üben – natürlich nicht am Patienten», sagt sie mit einem Lächeln. «Das war spannend und hat mir gezeigt, wie vielfältig der Beruf sein kann.» Franziska hingegen erinnert sich an ihren ersten Tag in der chirurgischen Praxis: «Ich war sofort mittendrin. Tupfer reichen, Instrumente anreichen – ich habe mich gebraucht gefühlt.»
Das ganze Spektrum eines Berufs
Die Betriebe schätzen nicht nur die Motivation der Schüler:innen, sondern auch das Konzept der halbjährigen Praktika. Markus Bastian, Meister für Veranstaltungstechnik und Geschäftsführer der DSR Veranstaltungstechnik GmbH, hebt hervor: «Ein Praktikum, wie es sonst üblich ist – oft nur eine Woche – kann in unserer Branche nie ein korrektes Berufsbild vermitteln. Aber durch das halbe Jahr mit den zwei Tagen pro Woche sehen die Praktikanten das gesamte Spektrum unseres Berufs.»
Er lobt außerdem die Möglichkeit, dass die Schüler:innen während des Praktikums zwei unterschiedliche Berufe kennenlernen: «Schließlich kann sich der «Traumberuf» auch als weniger passend erweisen und ein anderer Beruf liegt dem Schüler vielleicht besser. Selbst wer nach dem Praktikum weiß, dass er diesen Beruf nicht erlernen möchte, hat gewonnen. Das schützt vor Fehlentscheidungen und Ausbildungsabbrüchen, die schnell ein Jahr kosten könnten.» Die langfristige Wirkung dieser Praktika zeigt sich deutlich in seinem Betrieb: «Wir konnten bereits zwei Waldorfschüler bei uns in der Ausbildung begrüßen. Einer davon war unser allererster Azubi und ist inzwischen seit 24 Jahren Teil unseres Teams.» Er sieht einen klaren Vorteil der Waldorfschüler:innen in ihrer künstlerischen Ausbildung: «Durch die gelebte künstlerische Tätigkeit haben sie oft schon mehr Bezug zu Bühnen und können sich leichter in ein Projekt hineindenken.»
Körperliche und seelische Grenzen überwinden
Das Praktikum bringt die Schüler:innen an ihre Grenzen. «Auf dem Bau war der Ton manchmal rau, aber das gehört dazu. Mit der Zeit haben mich alle respektiert», sagt Aurelian. Er erzählt, wie er sich durch körperlich fordernde Arbeit bewährt hat. «Wenn du eine Stahlplatte trägst oder ein Holzstück auf der Baustelle bearbeitest, merkst du erst, was echte Arbeit bedeutet. Aber ich habe gelernt, dass ich das kann.» Andere Herausforderungen waren emotionaler Natur. Fabia musste sich in der Zahnarztpraxis überwinden, als sie zum ersten Mal eine Patientin mit Gesichtskrebs behandelte: «Ich musste rausgehen, es war zu viel. Aber dann habe ich gelernt, professionell damit umzugehen. Diese Erfahrung hat mich gestärkt.» Die Schule unterstützt die Schüler:innen bei solchen Herausforderungen. Einmal pro Woche treffen sich die Klassen, um sich über ihre Erfahrungen auszutauschen. «Das hilft uns, die Erlebnisse zu verarbeiten und uns gegenseitig Tipps zu geben», sagt Franziska. Praktikumsbetreuer Tobias Hille ergänzt: «Wir stehen im regelmäßigen Austausch mit den Schüler:innen und Betrieben. Wenn es Schwierigkeiten gibt, suchen wir gemeinsam nach Lösungen.»
Ein halbes Jahr reicht aus, um die Arbeitswelt intensiv zu erleben. «Ich durfte Maschinen bedienen und wurde ernst genommen. Es war, als wäre ich ein Azubi», sagt Aurelian. Auch Fabia erzählt von der Integration ins Team: «In beiden Betrieben war ich voll eingebunden. Ich habe nie das Gefühl gehabt, nur für Hilfsarbeiten da zu sein.» Die Rückmeldungen der Betriebe bestätigen diesen Eindruck. «Die Schüler:innen sind eine Bereicherung für unser Team», sagt ein Werkstattleiter. «Sie bringen frische Ideen und wir freuen uns, ihnen den Beruf näherzubringen.» Auch der soziale Umgang hinterlässt Spuren. «Ich habe gelernt, in einem Team zu arbeiten und Kritik anzunehmen», erzählt Franziska. «Das war nicht immer leicht, aber es hat mich weitergebracht.»
Das Praktikum dient weniger der Berufsorientierung als der Persönlichkeitsentwicklung – auch wenn viele Schüler:innen quasi nebenbei ihre beruflichen Ziele finden. «Ich weiß jetzt, dass ich Zimmermann werden will», sagt Aurelian. Fabia hingegen bleibt offen: «Vielleicht werde ich Zahnärztin, vielleicht mache ich etwas ganz anderes. Aber ich habe gelernt, dass ich Herausforderungen meistern kann.»
Ein Wendepunkt für Schulmüdigkeit
Für Praktikumsbetreuer Tobias Hille, der diese besondere Form des Berufspraktikums vor 25 Jahren an der Freien Waldorfschule auf der Alb mitinitiiert hat, steht die Entwicklung der Jugendlichen im Vordergrund: «Die Schüler:innen erleben, dass sie gebraucht werden. Besonders für schulmüde Jugendliche ist das oft der Wendepunkt.» Er erzählt von einem Schüler, der in der Schule kaum noch motiviert war: «Im Betrieb blühte er auf. Er hatte plötzlich Verantwortung und Anerkennung – und das hat ihn komplett verändert.»
Zwei volle Tage im Betrieb, drei Tage Schule – das Praktikum verlangt den Schüler:innen einiges ab. «Es ist anstrengend, aber es lohnt sich. Man bekommt eine Vorstellung davon, wie es nach der Schule ist», sagt Franziska. Die Schule versucht, den Übergang zu erleichtern: «Wir reduzieren die Hausaufgaben und passen den Stundenplan an, damit die Schüler die Doppelbelastung bewältigen können», erklärt Betreuerin Heike Mall.
Diese Balance sei entscheidend, ergänzt Hille: «Die Schüler brauchen Herausforderungen, aber auch Unterstützung. Beides zusammen führt zu Wachstum.» Das Berufspraktikum der Freien Waldorfschule auf der Alb verbindet Schule und Praxis auf besondere Weise. Es ist eine Brücke ins Leben. «Das Praktikum ist eine echte Lebensschule. Es zeigt den Schülern, dass sie etwas bewirken können», sagt Heike Mall.
Für Aurelian steht fest: «Ich will in dem Betrieb bleiben, wo ich mein Praktikum gemacht habe. Das passt einfach.» Fabia sieht das Praktikum als Chance zur Selbstreflexion: «Ich kann Herausforderungen meistern. Das werde ich immer brauchen.»
Ein Jahr, zwei Betriebe, viele Welten – das Berufspraktikum auf der Alb hinterlässt Spuren, die weit über die Schulzeit hinausreichen. «Ich würde es jedem empfehlen», sagt Franziska. «Man lernt viel über Berufe – und noch mehr über sich selbst.»
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