Ausgabe 12/24

English Meets Politics

Anne Brockmann

Der US-amerikanische Bundesstaat Nevada gilt bei den Präsidentschaftswahlen schon seit vielen Jahren als sogenannter Swingstate. Während ein Großteil der anderen Bundesstaaten seit jeher fest in den Händen einer Partei ist, haben dort oftmals sowohl die Demokraten als auch die Republikaner eine reelle Chance auf den Wahlsieg. Zusammen mit sechs weiteren Bundesstaaten wie beispielsweise Arizona und Georgia stand Nevada also auch bei den jüngsten Wahlen gewissermaßen auf der Kippe und war damit wahlentscheidend. So zumindest die Theorie.

Denn in dem Englischkurs der Klasse zwölf an der Freien Waldorfschule im nordrhein-westfälischen Hamm lag ein ganz eindeutiges Wahlergebnis vor. Vom Swingstate keine Spur. Und das weit vor den Ergebnissen der echten Wahl in den USA. Zwölf Stimmen für Kamala Harris und zwei Stimmen für Donald Trump – das ist die Bilanz eines besonderen Projektes im Englischunterricht, zu dem Fachlehrerin Anne Hammer ihre Schüler:innen angemeldet hatte.

Die Heranwachsenden schlüpften in die Rolle der Bürger:innen des Bundesstaates Nevada und gestalteten aus dieser Perspektive den Wahlkampf mit. Basierend auf dem Wissen, das sie sich seit Beginn des neuen Schuljahres angeeignet hatten, gaben sie als Delegierte «ihres» Staates bei einer interaktiven Simulationswahl schließlich schon vor dem 5. November ihre Stimmen ab. Ins Leben gerufen wurde das interdisziplinäre Projekt, das Englisch- und Politikunterricht miteinander verbindet, von Sina Werner und Torben Schmidt vom Institute of English Studies der Leuphana Universität Lüneburg. Beide, Werner und Schmidt, sind Professor:in für die Didaktik der englischen Sprache. Ihr US Embassy School Election Project 2024 ist die inhaltliche und methodische Weiterentwicklung eines Programms, das die US-amerikanische Botschaft in Berlin zusammen mit der Leuphana Universität Lüneburg sowie der Berliner Bildungsorganisation LIFE bereits zu den Präsidentschaftswahlen 2012, 2016 und 2020 angeboten hatte. Neben zum Teil überaus zutreffenden Wahlprognosen der beteiligten Schulklassen sind daraus in der Vergangenheit auch Forschungsarbeiten hervorgegangen.

5.000 Schüler:innen aus ganz Deutschland dabei
 

Anne Hammer, die zuvor Lehrerin an der Rudolf-Steiner-Schule Dortmund war, hat bereits zum wiederholten Mal mit Schüler:innen an dem Projekt teilgenommen und es in diesem Jahr erstmals nach Hamm geholt. Deutschlandweit haben sich insgesamt 5.000 Schüler:innen daran beteiligt. Die Klassen elf und zwölf aus Hamm stellten die einzigen Waldorfschüler:innen, die mitgemacht haben. Sie erlebten die politische Kultur und die demokratischen Prozesse in den USA mit. Anne Hammer berichtet: «Auf einer kostenlosen, interaktiven Lernplattform gewannen die Schüler:innen tiefe Einblicke in die politischen Prozesse und die Meinungsbildung in den USA. Informationen über Geschichte, Politik, Wirtschaft, Demografie und Gesellschaft sowie über die lokale und regionale Medienlandschaft verarbeiteten sie zu einer begründeten und kreativ gestalteten Wahlprognose für ihren Paten-Staat.»

Party und Personenkult
 

Überrascht waren die Teilnehmer:innen aus Hamm vor allem von der Rolle der Medien. «Wir haben im Internet lokale Zeitungen aufgerufen, aber auch Talkshows angeschaut. Besonders da fiel auf, dass es kaum unabhängige Medien gibt. Die Redezeit ist ungleich verteilt, der Faktencheck im Nachhinein wird manchmal nicht so gründlich gemacht, bestimmte Themen dafür besonders gepusht», erläutert Hanna. Überhaupt hätten die Schüler:innen aus Hamm den Eindruck gewonnen, dass in den USA eher einzelne Themen wahlentscheidend sind und nicht das Gesamtprogramm einer Partei. Dieses Phänomen nehmen sie in Deutschland weniger wahr. Den Wahlkampf hätten sie insgesamt stark auf die beiden Kandidat:innen zugeschnitten erlebt. «Ich glaube, man kann fast von einem Personenkult sprechen», sagt Isla, die das befremdlich findet. Andererseits gebe das dem ganzen politischen Geschehen in den USA eine gewisse Anziehungskraft, ergänzt Anne Hammer. Wahlveranstaltungen hätten einen Partycharakter. Das verschleiere Inhalte, hole die Menschen aber emotional ab. Für Lilith war es ein zentrales Thema, das ihr Votum bestimmt hat: das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche für Frauen. Sie hat deshalb für Kamala Harris gevotet. Gut möglich, dass sie die Bürgerinnen Nevadas mit dieser Haltung entsprechend repräsentiert hat. Denn in einer Umfrage geben zwar 44 Prozent aller Menschen im Bundesstaat an, dass Religion sehr wichtig in ihrem Leben sei, Nevada liegt damit aber gerade mal auf Platz 41 von 51 in den USA. Und die Frage nach der Abtreibung ist oft eng mit der Religion verknüpft. Solche Daten waren es zum Beispiel, die die Schüler:innen sich erarbeitet und in ihre Entscheidung mit einbezogen haben.

Neuer Blick auf Deutschland


Insgesamt ist es den Oberstufler:innen schwerer gefallen als gedacht, die eigene Überzeugung außen vor zu lassen und entgegen dieser zu wählen. Andernfalls wären wohl deutlich mehr Stimmen bei Donald Trump gelandet. Wer von den Schüler:innen dem Republikaner seine Stimme gegeben hat, blieb ein Geheimnis. Die Paten der Trump-Anhänger wollten sich nicht outen, wenngleich allen deutlich war, dass es nicht um ihre persönliche Haltung ging. Anne Hammer betonte diesbezüglich noch mal, dass es in einer echten Demokratie immer auch darauf ankommen würde, die gegnerische Seite zu verstehen, um zu guten Lösungen zu kommen. Anonym gaben die beiden Trump-Wähler:innen immerhin die Beweggründe für ihre Wahlentscheidung preis. Einmal heißt es in den Ausführungen, dass die Wahl auf Trump nicht aus Überzeugung gefallen ist, sondern vielmehr, um die Mehrheit auszutesten. Denn dass in Hamm Kamala Harris gewinnen würde, war wohl abzusehen. Die Person, die für Trump gestimmt hat, war neugierig, zu erfahren, wie der Rest der Wähler:innen mit einer unpopulären Meinung umgehen würde. Ein demokratischer Stresstest für die Klasse gewissermaßen. Die zweite Stimme bekam Trump für sein Versprechen von einer blühenden Wirtschaft. Kamala Harris dagegen punktete nicht nur bei Lilith mit ihrer liberalen Haltung gegenüber Schwangerschaftsabbrüchen. Dieses Thema war in vielen Begründungen ausschlaggebend. Ebenso die Hoffnung, dass sie sich als weibliche Präsidentin insgesamt für die Rechte von Frauen stark machen würde.

Die Demokratie in Deutschland ist etwas, dass die Schüler:innen aus Hamm durch das Projekt mehr zu schätzen gelernt haben. Raphael zum Beispiel ist froh, dass es in Deutschland keine Wahlmänner gibt, die nach dem Prinzip The winner takes it all dem Präsidentschaftskandidaten alle Stimmen geben, dessen Partei in einem Bundesstaat vielleicht nur eine ganz knappe Mehrheit erringen konnte. «Eine echte Demokratie ist das eigentlich nicht», findet er. Und Hanna schätzt die vielen Parteien, die wir hierzulande haben. «Klar machen die es schwierig, Mehrheiten hinzubekommen. Aber sie geben auch die Möglichkeit, genau zu schauen, wer am besten zu mir passt», sagt sie. Wie viele andere aus ihrer Klasse hat auch Eva die Wahlen in den USA weit über das Projektende hinaus verfolgt. Ihr bereitete Sorgen, dass die Umfragewerte von Kamala Harris gefallen waren – ein paar Tage, bevor es in den USA wirklich zur Sache ging. «Dass unsere Teilnahme das bewirkt hat, dass die Schüler:innen sich ernsthaft für die Politik in den USA und auch hier in Deutschland interessieren, das ist für mich das Beste daran, auch wenn es mir von Haus aus ums Englisch geht», fasst Lehrerin Anne Hammer zusammen.

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