Welche Bedingungen begünstigen die Entfaltung einer Persönlichkeit? Sind es die Förderungen, die Kinder oder Jugendlichen erhalten, oder sind es Krisen, Konflikte und Widerstände, die sie überwinden müssen? Damit ist selbstverständlich nicht gemeint, dass Erwachsene Kindern absichtlich Widerstände und Krisen in den Weg legen müssten, damit sie sich dadurch entwickeln, sondern es soll der Blick darauf gelenkt werden, dass Konflikte und Krisen eben auch, wenn sie gleichermaßen empathisch und freilassend begleitet werden, Entwicklungschancen bieten.
In der pädagogischen Begleitung von Jugendlichen durch ihre Schulzeit und Kontakte zu ihnen danach wurde mir ein Aspekt immer deutlicher. Es ist ein Aspekt, der an die Lehrkräfte und erwachsenen Begleitpersonen eine höhere Herausforderung stellt als alle anderen Facetten der Begabtenförderung, die in den letzten 100 Jahren bearbeitet wurden. Angedeutet findet sich dieser Aspekt in einem Zitat des Psychiaters Joachim Bauer: «Sie (die Hochbegabten) leben sich gewissermaßen in den Korridor der Vorstellungen und Visionen hinein, die sich ihre Bezugspersonen (…) von ihnen machen». Wenn mit dem Bild des Korridors nicht der enge, schmale Gang mit einseitigen Lebensfestlegungen vorgestellt wird, sondern ein potenziell vielgestaltiger Raum von Visionen gesehen wird, kann der waldorfpädagogische Ansatz diesem Bild gut folgen.
Um meinen Gedankengang näher zu erläutern, schildere ich hier das Beispiel von Udo (Name geändert). Ich lernte Udo in der siebten Klasse kennen, begleitete ihn bis zu seinem Abitur in der 13. Klasse und habe seinen Werdegang auch später noch verfolgt. Er war als Siebtklässler einer der sich spät entwickelnden, noch kleinen Jungen, allerdings äußerst beweglich und mit einer kräftigen und ausgebildeten Muskulatur und einer sehr guten Körperspannung. Er hatte einen freundlichen und offenen Blick. Ich erfuhr, dass er einer der besten Kanuslalomfahrer in seiner Altersklasse in Deutschland war, mit sehr guten Aussichten, in die Sportförderung zu kommen. Er hatte eine eindeutige Bewegungsbegabung, eine hohe Kompetenz, die richtigen Paddelschläge zu setzen, um auf dem Wasser auch schwierige Situationen erfolgreich zu lösen. In der Schule sah es allerdings anders aus. So suchte er die Nähe zu einer Gruppe tonangebender Jungen. Zu diesen gewann er aber keinen Anschluss, sondern wurde massiv ausgegrenzt. Seinen Eltern machten sich viele Gedanken, wie sie Udo helfen könnten und es fanden mehrere Gespräche mit mir als Klassenbetreuer statt. Sollte Udo nicht besser aus der Klasse genommen werden, sollte er nicht in die Sportförderung an ein entsprechendes Internat wechseln? Er selbst betonte immer wieder, alles sei nicht so schlimm, er wolle in der Klasse bleiben. Schließlich entschied er sich in der achten Klasse, auf die sportliche Karriere zu verzichten. Später sagte er einmal, es sei ihm klargeworden, dass dann nur noch der Kanusport sein Leben bestimmt hätte.
Die Ausgrenzungen und Demütigungen wurden in der neunten Klasse nicht weniger, er war auch weiterhin einer der kleinsten Jungen. Tragisch war für die begleitenden Lehrer:innen immer wieder zu erleben, wie insbesondere seine von Erwachsenen übernommenen Redensarten die anderen Klassenkameraden zu Ausgrenzungen herausforderten. Er fand nicht die geeigneten Worte und Taten, um bei den anderen Anschluss zu finden. Die Wende brachte eine Klassenfahrt: Eine mehrtägige Kanureise auf einem französischen Flüsschen, dass sich durch kleine Wildwasser-Passagen auszeichnete. Er fuhr mit seinem wendigen Einsitzer wie ein Coach für die ganze Klasse und die Begleiter:innen zwischen allen Booten herum und half allen Kanufahrer:inen, schwierigere Passagen zu überwinden. Manchmal ging es nur um kleine Richtungskorrekturen, die er den Booten mit einem kleinen Schubs verabreichte, manchmal ging es um handfeste Hilfe, wenn ein Boot gekentert war. Die Jugendlichen der Klasse erlebten vor allem sein Können und seinen unglaublichen Einsatz für alle. Ab diesem Zeitpunkt wandelte sich das Gesamtverhältnis und er wurde immer mehr zum integrativen Mittelpunkt der Klasse und es schien, als könne er seine körperliche Beweglichkeit in eine soziale Beweglichkeit verwandeln, um schließlich auch Seiteneinsteiger:innen, die neu in die Klasse kamen, aufs Beste zu integrieren. Diese Sozialfähigkeit zeigte er auch in außerschulischen Aktivitäten, wie einer Pfadfinder:innengruppe.
Auch im Studium (er entschied sich für Pädagogik) war er nach Aussagen seiner Mitstudent:innen der soziale Mittelpunkt des Semesters und bei allen äußerst beliebt. Es wäre vermessen zu sagen, dass ich als begleitender Lehrer bei diesem Jungen eine Vision von dieser Sozialfähigkeit oder der Transformation seiner sportlichen Beweglichkeit in eine soziale gehabt hätte, aber ich glaube es war damals wichtig, dem Jungen selbst genau zuzuhören und ihm die Sicherheit zu geben, dass wir in der Schule sein Leiden einerseits wahrnehmen und ihn andererseits in seinen Wünschen und Zielen unterstützen. Die Klasse reflektierte selbst am Ende der Schulzeit, wie sie sich Udo gegenüber vor der Kanutour verhalten hatte und wie sich das gewandelt hatte. Die Klasse war eindeutig für Udo die härteste Schule, die man sich aussuchen konnte, aber es war eben auch eine sehr wirksame, denn schließlich konnte er sich selbst verwandeln und die provozierenden und oft deplatzierten Sprüche ablegen, mit denen er immer wieder für Eskalationen gesorgt hatte. Ich stelle mir seither oft die Frage, ob die Begabungen eines Menschen das Eine sind, aber die Aufgaben eigentlich das Wesentliche. Kann es sein, dass die Begabung zwar einerseits nach Bestätigung und Wahrgenommenwerden ruft, aber andererseits Freiraum und Möglichkeiten eröffnet, diese zu metamorphosieren und quasi umzuschmelzen, um die Aufgabe für das Leben zu meistern?
Ausgabe 12/23
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