Die Entwicklung der selbstständigen Persönlichkeit ist ein wesentliches Ziel des Oberstufenunterrichts an der Waldorfschule. Dazu gehört, wie Rudolf Steiner schreibt, Zeitgenossenschaft zu erwerben. Heutzutage bezieht sich das insbesondere auf den Umgang mit digitalen Medien, denn die digitale Welt ist zur Lebenswelt geworden, in der sich ein wesentlicher Teil unseres Lebens abspielt. Im Sinne der Salutogenese, also einer «heilenden Pädagogik», ist es außerdem ein Anliegen der Waldorfschule, Schüler:innen ein Gefühl von Kohärenz zu vermitteln. Das heißt, sie sollen befähigt werden, die Lebenszusammenhänge, die sie umgeben, zu durchschauen, sie zu eigenen Zwecken zu gestalten und dieses verstehende Gestalten mit Sinn füllen zu können. Eine Weiterentwicklung der Epochenheftarbeit in der Oberstufe muss daher stufenweise durch Elemente digitaler Gestaltung ergänzt werden.
Epochenheft als beeindruckendes Zeugnis
Das Epochenheft veranschaulicht ohne viele Worte den Wert der Waldorfpädagogik. Ein spezieller Aspekt ist dabei die Vielfalt und Besonderheit der Hefte bei gleicher Aufgabenstellung. Die Handschrift der kindlichen Persönlichkeit wird am Ende der achten Klasse immer sichtbarer – in Bezug auf die gesamte Gestaltung. Beim Übergang in die Oberstufe zeigt sich dann aber oft ein deutlicher Bruch. Bei den Jahresarbeiten der zwölften Klasse lässt sich ohne Kenntnis des Themas kaum mehr bestimmen, welche:r Schüler:in die Arbeit verfasst hat. Grund dafür ist die Verwendung digitaler Hilfsmittel zur Gestaltung des eigenen Berichtsheftes – meistens ohne pädagogische Anleitung und Reflexion. Oftmals wertet die schriftliche Ausarbeitung als einzig vorzeigbares Ergebnis die im Verlauf des Jahres tatsächlich geleistete Arbeit sogar ab. Zu dieser gehören nämlich auch beeindruckende Präsentationen, überzeugende Auftritte vor großem Publikum und berührende persönliche Ausführungen im Kolloquium. Es stellt sich also die Frage: Wie kann Waldorfpädagogik Schüler:innen dabei unterstützen, ihre umfassenden und beeindruckenden Fähigkeiten, die sie bei der Epochenheftarbeit erworben haben, unter Verwendung digitaler Hilfsmittel so zu transformieren, dass sie zu Medienmeister:innen werden?
Transformationsprozesse und Gestaltungsfragen
Ein erster Schritt in diesem Transformationsprozess besteht darin, die Frage der Epochenheftgestaltung bereits in der Klassenlehrer:innenzeit ins Bewusstsein zu heben. Ein guter Anlass für diese Bewusstmachung ist eine selbstständige Arbeit zu einem selbstgewählten Thema, wie sie an vielen Schulen in der achten Klasse üblich ist. Diese wird auch Menschen außerhalb der eigenen Klassengemeinschaft präsentiert und gibt daher Anlass, sich mit neuen Fragen auseinanderzusetzen: Für wen schreibe ich? In welchem Zusammenhang und zu welchem Zweck entscheide ich mich für eine bestimmte Gestaltung meiner Publikation? Bereits ab Klasse sieben können auch formale Elemente wie Verzeichnisse, Glossare und systematische Quellenangaben zur Anwendung kommen. Das Erfordernis, zum Landwirtschaftspraktikum in der Oberstufe einen Bericht zu verfassen, kann dann ein willkommener Anlass sein, erstmalig auf der Basis einer grundlegenden Einführung im Unterricht ein durchgängig digital gelayoutetes Heft zu schreiben. Hierbei können die Schüler:innen auf ihre Erfahrungen der vorangegangenen Schuljahre im produktiven Umgang mit der zunehmend selbstständiger werdenden Heftgestaltung aufbauen.
Das klingende Epochenheft
Ergänzend zu den schriftlichen und mündlichen Möglichkeiten, sich im Unterricht einzubringen, lässt sich inzwischen auch gesprochene Sprache vergleichsweise einfach in das Epochenheft integrieren. Eine Tonaufnahme, die im Unterricht oder zu Hause erstellt wird, lädt man dazu auf eine geeignete (nicht-öffentliche) Plattform hoch, erstellt einen Kurzlink und einen QR-Code, die dann beide im Epochenheft erscheinen. Beim Anschauen des Hefts kann man so mittels Computer oder Smartphone die Tonaufnahme hören. Für diese Art der Aufnahme bewähren sich eine Reihe von Formaten wie das Kolleg:innengespräch, das Hörbild, eine Zusammenstellung von Texten, Geräuschen und Musik zu einem eng begrenzten Thema oder das Radiofeature.
Aus didaktischer Sicht ist es dabei wichtig, dass die Lehrperson den Schüler:innen Vertrauen gewährt. Nichts wird ohne Einverständnis veröffentlicht oder in der Klasse präsentiert. Auch die technische Qualität der Aufnahme und Verarbeitung sollte möglichst gut sein und in einem passenden Verhältnis zu den Bemühungen der Schüler:innen stehen. So stellt diese Art der Verarbeitung und Präsentation eine zusätzliche Alternative zu den klassischen schriftlichen Formen dar, sollte sie aber keinesfalls ersetzen. Mit siebten Klassen wurden für ein erstes Kennenlernen dieses Audioformates die besten Erfahrungen gemacht.
In den folgenden Jahrgangsstufen können dann weitere Formen des Radiojournalismus das didaktische Portfolio ergänzen. Später bereichern Stop-Motion-Filme oder auch Erklärvideos in gleicher Weise die Epochenheftarbeit. Bei der Integration digitaler Inhalte sollten die vielfältigen Möglichkeiten neuerer Medienformen jedoch stets gemeinsam mit den Schüler:innen reflektiert werden. Hierbei stellen sich beispielsweise folgende Fragen: Was sind die Besonderheiten der jeweiligen Medienformen? Welche Vor- und Nachteile haben diese Medienformen? Welche Beziehungen kann ich über die jeweilige Medienform zum Inhalt entwickeln? Welche Medienform ist für welchen Zweck und für welchen Anlass geeignet?
Die Jahresarbeit in der zwölften Klasse
Im Rahmen des Forschungsprojektes Entwicklung neuer Bewertungs- und Prüfungsformen auf der Grundlage von Kompetenz-Portfolios, welches ab 2003 in Nordrhein-Westfalen durchgeführt wurde, gab es das Teilprojekt Die Jahresarbeit neu gestalten. An diesem Projekt beteiligten sich über viele Jahre auch die Waldorfschulen in Düsseldorf, Haan-Gruiten und in Schloss Hamborn. Das Projekt formulierte pädagogische Ziele wie das Erlernen von Selbstorganisation, Zeitorganisation und nachhaltiges Arbeiten seitens der Schüler:innen sowie organisatorische Ziele für die beteiligten Schulen wie die Entwicklung von Verfahren und Abläufen, die den Prozess der Jahresarbeit sinnvoll unterstützen.
Für die Umsetzung der Jahresarbeiten wurden neue Elemente eingeführt. Die bisherige Formulierung der Aufgabenstellung «Schreibe eine Arbeit über ein selbst gewähltes Thema» wurde überdacht, da sie häufig zu offensichtlichen Plagiaten aus Internetquellen führte und weil vor allem auch das Auffinden und Neu-Arrangieren von Informationen schon lange keine besondere Schwierigkeit mehr darstellt. Die neue Herausforderung lautet deshalb: «Ich wähle mir eine Aufgabe und berichte von den Ergebnissen und vom Arbeitsprozess.» Zur Umsetzung der genannten Ziele wurden sechs Komponenten definiert und an allen Schulen in gleicher Weise umgesetzt. Demnach beginnt die Jahresarbeit mit einem herausgehobenen Erlebnis, dem Startschuss. Es findet dann nach etwa der halben Laufzeit ein Zwischenkolloquium statt. Es wird eine schriftliche Arbeit angefertigt. Die Arbeitsergebnisse werden in einer schulöffentlichen Ausstellung gezeigt. Vor großem Auditorium präsentieren die Schüler:innen die Jahresarbeit in einem Vortrag, an den sich noch ein Kolloquium im kleinen Kreis anschließt.
Ausblick
In einigen Fällen haben Schüler:innen den Verlauf dieses Jahresarbeitsprozesses in Form eines Blogs dokumentiert und dabei Texte, Bilder, Tonaufnahmen sowie kleine Filme eingebunden und teilweise in einem geschlossenen Forum andere Menschen an der Entwicklung der Jahresarbeit fragend und kommentierend Anteil nehmen lassen. Die angestrebte Medienmündigkeit besteht letztlich darin, im jeweiligen Zusammenhang und für den jeweiligen Zweck die geeignete und bevorzugte Medienform wählen zu können. Werden die verschiedenen Medienformen wie im Fall des Blogs zur Jahresarbeit integriert, so kann sowohl für den Bereich der Epochenheftarbeit als auch für den Bereich der Medienpädagogik ein wertvoller Beitrag zu einer zukunftsfähigen Pädagogik des 21. Jahrhunderts geleistet werden.
Dieser Text ist eine neu formulierte Kurzfassung aus dem Kapitel Vom Epochenheft zur Jahresarbeit. Digitale Transformationen und stammt aus dem Buch Epochenhefte. Theorie und Praxis eines Bildungsmediums, herausgegeben von Christian Becker und Angelika Wiehl.
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