Ausgabe 11/24

Erholung und Selbsterkenntnis

Jürgen Beckmerhagen

In einer Kurklinik finden Menschen, die diesen Punkt erreicht haben, oft zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zu sich selbst, indem sie erfahren, was es bedeutet, wirklich gesehen und berührt zu werden.

Heute besuche ich die Phoenix-Kurklinik in Juliusruh auf der Ostseeinsel Rügen. In Bergen enden die Fernzüge, in Sagard die Regionalzüge. Von dort geht es weiter mit dem Auto oder dem Bus. Egal aus welchem Winkel Deutschlands man kommt, es ist eine lange Anreise.

Die moderne, helle Architektur des Hauses mit großen Fenstern und freundlichen Pastellfarben vermittelt ein Gefühl von Offenheit und Geborgenheit. Im Innenhof zwischen Haupthaus und Therapiehaus gibt es einen großen Kinderspielplatz. Einige Appartements haben eine Terrasse, andere einen Balkon. Der Ostseestrand ist in Rufweite. Autos aus Bayern, Nordrhein-Westfalen und Berlin stehen vor der Klinik. Von überall her kommen die Kurgäste.

Es ist Mittagszeit. Im Foyer besprechen Eltern mit ihren Kindern die nächsten Unternehmungen. Auf der Terrasse vor dem Speisesaal treffe ich Marina Kayser-Springorum, die ärztliche Leiterin, Katharina Fiebig, die kaufmännische Leiterin, und Klaus Roßelnbruch, den pädagogischen Leiter. Nach fünf Stunden Autofahrt bin ich für ein Mittagessen dankbar. Während ich esse, sprudelt es aus der freundlichen und warmherzigen Ärztin heraus: «Die meisten kommen zu uns mit schwerer Erschöpfung, verursacht durch vielfältige Belastungen wie Alleinerziehenden-Situationen, berufliche Herausforderungen, chronische Erkrankungen, Trennungen oder familiäre Schicksalsschläge. Jeder hat seine eigene Geschichte, aber alle suchen nach einem Weg, mit ihrer Erschöpfung umzugehen und neue Kraft zu sammeln».

Alle drei Wochen reisen 37 Familien an, meistens Mütter mit Kindern, manchmal auch Väter oder beide Elternteile. Neben den Erwachsenen ist jedes dritte Kind Patient:in. Bahnreisende werden mit dem Klinik-Bus oder einem Taxi in Bergen oder Sagard abgeholt. Nach der Ankunft richten sich Eltern und Kinder in ihren Zwei-Zimmer-Appartements ein, essen zu Abend und werden von Katharina Fiebig und einer Pflegekraft begrüßt.

Während der dreiwöchigen Kur ist wochentags der Ablauf fast immer gleich. Frühstück zwischen 7 Uhr und 8.15 Uhr. Danach die erste Behandlung, während die Kleinsten in der Krippe und die Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren in der Kinderinsel sind. Mittagessen zwischen 11.45 Uhr und 13:00 Uhr, danach Mittagsruhe. Zwischen 14 und 16.20 Uhr erfolgt die zweite Behandlung, während die älteren Kinder mit der Kinderinsel etwas unternehmen. Abendbrot gibt es zwischen 17.30 Uhr und 18:45 Uhr. Gelegentlich steht noch ein fakultatives Angebot für Eltern auf dem Programm. Heute Abend singt der Chor. Die Wochenenden stehen zur freien Verfügung.

An den ersten beiden Tagen nach der Ankunft führen zwei Ärzt:innen mit den Familien 30-minütige Aufnahmegespräche und vereinbaren mit den Patient:innen individuelle Therapiepläne, basierend auf den mitgebrachten Diagnosen, Vorerkrankungen, akuten Beschwerden und biografischen Hintergründen.

Im Schnitt erhalten die Patient:innen 31 Therapien, verteilt über drei Wochen mit jeweils fünf Tagen. Dazu zählen immer eine große physische Behandlung wie Bäder, Einreibungen oder Massagen, um körperliche Beschwerden zu lindern, Wärme anzuregen und Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln. Bewegungstherapien wie Heileurythmie, Eurythmie in der Gruppe oder zügiges Wandern am Strand mit Stöcken fördern die allgemeine Fitness und Beweglichkeit. Für die geistige und emotionale Gesundheit wird entweder Musik- oder Kunsttherapie verordnet: Musiktherapie hilft besonders Patient:innen mit Ängsten und Panikstörungen durch Atemübungen, während Kunsttherapien wie Malen oder Plastizieren Patient:innen mit Unruhe und Verkrampfungen entspannen und beruhigen. Aber auch Ernährungsberatung und familienzentriertes Stressmanagement stehen auf dem Plan.
In der Musiktherapie geht es um Atemtherapie und keineswegs primär ums Singen oder das Beherrschen von Noten. Gelegentlich trommeln und singen die Teilnehmer:innen auch, doch der Schwerpunkt liegt auf entspannenden Übungen zur Regulation des Atems und dem Kraftaufbau.

In der Kunsttherapie geht es um Selbsterkenntnis und Ausdruck und weniger um das Erlernen von Fähigkeiten. Patient:innen malen oder plastizieren, je nach Methode des jeweiligen Kunsttherapeuten. «Für mich ist es ein diagnostisches Mittel, für den Patienten ein Ausdrucksmittel und ein Weg zur Selbsterkenntnis,» erklärt Kayser-Springorum. «Durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk – sei es die Farbwahl, die Grenzen zwischen den Farben, die Formen oder die Intensität – erleben die Patienten etwas von sich selbst, das ihnen sonst verborgen bleibt.» Patient:innen werden ermutigt, ihre eigenen Wahrnehmungen und Gefühle zu erkunden. «Das Bild zeigt den Zustand des Patienten in dem Moment, in dem es gemalt wurde, und ermöglicht so eine Momentaufnahme ihrer inneren Welt.» Diese Erkenntnisse können helfen, Stärken und Schwächen besser zu verstehen und Ansätze für Veränderungen zu entwickeln. Die Nachhaltigkeit der Kunsttherapie liegt in der Bewusstwerdung und Reflexion.

Ein weiterer zentraler Baustein ist das familienzentrierte Stressmanagement, das an allen fünf Werktagen jeweils einer Kurwoche angeboten wird und aus informativen und interaktiven Elementen besteht. «Es geht darum, zu verstehen, was man Kindern in welchem Alter zumuten kann und was nicht, um häufige Fehler in der Erziehung zu vermeiden,» erklärt Kayser-Springorum. Mit Spielen und Übungen schärfen Eltern ihre Wahrnehmung und das Verständnis für ihre Kinder und deren Bedürfnisse. Beispielsweise sitzen Eltern Rücken an Rücken und geben einander verbale Anweisungen zum Nachbau von Konstruktionen mit Bauklötzen. «Das ist kein akustisches Problem, sondern ein Verständnis- oder Kommunikationsproblem», betont die Ärztin. Besonders aufschlussreich seien Rollenspiele, bei denen Eltern die Perspektive ihrer Kinder einnehmen und die Elternrolle von anderen Teilnehmer:innen gespielt werden. Diese Übungen ermöglichen es, sich in die Gefühle der Kinder hineinzuversetzen und neue Lösungsvorschläge für alltägliche Stresssituationen zu finden. «Es sind Selbsterkenntnisprozesse und Übungen in Wahrnehmung, Verständnis und Zuwendung», fasst Kayser-Springorum zusammen und betont die Bedeutung von Respekt, Toleranz und Vertrauen in der Partnerschaft als Fundament für ein harmonisches Familienleben.

In den ersten Tagen der Kur sind Eltern und Kinder erst einmal mit sich selbst beschäftigt. Sie gewöhnen sich an die Umgebung und an die Therapien. Alles ist neu, aber alles muss auch schnell gehen. «Wenn Sie erleben würden, welchen Prozess die Leute hier durchmachen», wundert sich Kayser-Springorum. «Nach neun, zehn Tagen fühlen sie mit sich selbst konfrontiert und das ist nie angenehm.»

Die Ärztin berichtet von intensiven emotionalen Reaktionen ihrer Kurgäste auf die Therapien. Diese Reaktionen resultieren aus tiefen Erkenntnisprozessen und der seelischen Berührung, die viele Patient:innen seit Jahren nicht mehr erfahren haben. Die liebevolle und aufmerksame Behandlung sowie die körperliche und seelische Berührung führen dazu, dass alte, verhärtete Schutzmechanismen aufgeweicht werden. Dadurch öffnen sich Patient:innen für neue Ideen und Veränderungen in ihrem Leben, was es ihnen ermöglicht, ihre Zukunft aktiv und positiv zu gestalten.

Die Kur zielt darauf ab, den Menschen Impulse und Bewusstsein für Veränderung zu geben, die sie über Jahre hinweg begleiten können. «Selbsterziehung und Veränderung an sich selbst herbeizuführen, gehört zu den schwierigsten Dingen im Leben,» erklärt Kayser-Springorum. Während der Kur geht es darum, die Patient:innen erkennen zu lassen, welche Veränderungen notwendig sind und wie sie diese angehen können. Sie betont: «Wir können das Bewusstsein schulen und die Wahrnehmung verschärfen, aber die Veränderung muss jede und jeder selbst bewirken.» Durch die therapeutische Unterstützung und das Schaffen eines liebevollen, unterstützenden Umfelds, lernen die Patient:innen, positiver zu denken und sozialer zu handeln. «Unser Ziel ist es, dass die Menschen hier beginnen, wieder liebevoller mit sich selbst und anderen umzugehen.» Kayser-Springorum hofft, dass die Patient:innen durch die Kur erkennen, was sie in ihrem Leben verändern können, um eine bessere Lebensqualität zu erreichen. «Es geht darum, das Bewusstsein zu schärfen und den Menschen zu helfen, ihre Wahrnehmung zu ändern und die dafür notwendigen Kräfte zu generieren.»

Es ist später Nachmittag. Die Sonne scheint noch immer auf die Terrasse. Am Nachbartisch unterhalten sich vier Jugendliche. Man könnte meinen, sie würden sich schon lange kennen, dabei sind es erst zwei Wochen. Gaby Lieske setzt sich zu mir und erzählt mir etwas über physikalische Behandlungen. Während wir noch darüber reden, was rhythmische Einreibungen bewirken, greift sie nach meinem Arm und streichelt ihn sanft und fortwährend mit beiden Händen, während sie in ruhigem Ton weiterredet. Aber da gibt es nicht viel zu erklären, man muss es erlebt haben. Unmittelbar weichen sämtliche Anspannung aus meinem Körper, ich bin im wahrsten Sinne des Wortes entspannt und wünsche mir, ebenfalls zweimal pro Woche für 30 Minuten diese Einreibungen oder eine andere Massage genießen und danach eine Zeitlang ruhen zu können.
Auf dem Weg vom Hotel zum Strand komme ich abends noch einmal an der Kur-Klinik vorbei. Dort ist es ruhig. Unter dem Dach steht eine Tür weit offen. Der Elternchor singt.

Bevor ich am nächsten Morgen heimfahre, besuche ich noch die Kinderinsel. Am Eingang begrüßen Kerstin Neynaber und Klaus Roßelnbruch die Kinder. Die jüngsten sind fünf, die ältesten 13 und 14 Jahre alt. In zwei Gruppen bereiten einige ein zweites Frühstück vor, andere häkeln, basteln oder malen, wieder andere spielen Brettspiele. In einer Ecke steht eine Vitrine mit Muscheln, Vogelnestern und einem Holzwal. Die Größeren spielen Monopoly. Ein Mädchen spielt mit der Puppenstube, zwei verkaufen sich in einem Kaufmannsladen gegenseitig Gemüse und Früchte. Ein Junge spielt im Sandkasten. «Wer will, kann Hausaufgaben von seiner Schule machen», erklärt Roßelnbruch. Nur will das heute Morgen scheinbar niemand. Ich setze mich an einen Tisch, an dem ein Fünfjähriger Alpenroulette spielt. Er ist ein Mathegenie und jongliert mit Leichtigkeit mehrere Zahlen im Hunderterbereich. Zwei Mädchen kommen an den Tisch. Eine zeigt mir, wie man aus Papier kleine Schachteln faltet, die andere, welche Bernsteinschätze sie am Strand gefunden hat. Es geht friedlich und ruhig zu, trotz der vielen Kinder, trotz der Altersunterschiede und dem Umstand, dass sie daheim verschiedene Schulformen besuchen. Die Umgebung und die sich langsam entspannenden Eltern scheinen gut auf sie zu wirken. Zum Abschied schenkt mir ein Mädchen eine Papierschachtel, ein Freundschaftsband und einen gemalten 134-Euro-Schein. Ein anderes Mädchen legt einen kleinen Bernstein hinzu.

Reich beschenkt und beeindruckt von der Aufgabe, vor denen die Mitarbeiter:innen jeden Tag stehen, verabschiede ich mich nach zwei erlebnisreichen Tagen.

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