Anspruch der Tagung war es, das Wahrnehmen und Pflegen des werdenden Menschen und die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Kind in den Mittelpunkt zu stellen. Auch für die über 950 Teilnehmer:innen aus 62 Ländern stand die persönliche Begegnung im Vordergrund: Säle und Flure des großen Zentrums vibrierten geradezu in der Freude des Miteinanders, des Wieder- und Neuerkennens. So ist dieser Bericht auch nicht einfach eine Auflistung von Vortragsinhalten: Was wir vom Leben empfangen, wird in uns sofort assimiliert, durch Gespräche und weitere Impulse verwandelt und schließlich zu eigen gemacht. Wir nehmen fremde Gedanken auf und kommen dadurch paradoxerweise zu uns selbst. Der spanische Philosoph Josep Maria Esquirol drückte das in seinem Eröffnungsbeitrag so aus: «Das Anderssein des Menschen und der Welt in mich aufzunehmen, macht mein eigenes Menschsein intensiver.» Die grausamste Form der Unmenschlichkeit sei die Indifferenz; wenn ich mich nicht von meiner Umwelt berühren lasse, verliere ich auch den Zugang zu mir selbst. Hauptaufgabe der Erziehung, auch der Schule, sei es, soziale Grunderlebnisse zu ermöglichen: Freude am Leben, Angst vor Einsamkeit oder Schmerz, Liebe zu anderen, Staunen über die Welt.
Paradigmen des Miteinanders
Immer wieder wird mir in den Vorträgen und Seminaren auf dieser Tagung klar, dass es beim Unterrichten nicht um die Vermittlung des Lehrplans geht. Dieser ist Mittel zum Zweck, weil der Mensch lernen will und muss. Wir lernen sozusagen durch das Lernen, wie und wer wir und wie und wer die anderen sind – und wie wir das am besten zusammenbringen.
In einem weiteren Beitrag werde ich auf die Loslösung von traditionell eurozentrischen Praktiken und Inhalten eingehen, eines der brennenden Themen dieses internationalen Treffens. Eine globale Sicht auf die generativen Prinzipien der Waldorfpädagogik ermöglicht unserer Bewegung die nachhaltige Weiterentwicklung. In diesem Artikel geht es zunächst um grundlegende Paradigmen des Miteinanders:
Schon das neun Monate alte Kind, so beschreibt es der Heidelberger Wissenschaftler Thomas Fuchs, schaut zu Mutter oder Vater, wenn es etwas Bemerkenswertes entdeckt: Es zeigt auf den Ball oder das Auto und wendet sich dann, Bestätigung suchend, an die ihm vertrauten Menschen: «Siehst du das auch?» An dieser Rückversicherung entwickelt sich die Erkenntnis, dass die Welt durch die Augen anderer Menschen anders erscheint. So wird soziale Wahrnehmung erst möglich.
Im täglichen Miteinander unter Erwachsenen beginnen viele Streitgespräche mit dem Ausdruck: «Meiner Meinung nach …», als wäre diese Selbstdarstellung erstens absolut und zweitens einer Lösung des gemeinsamen Problems zuträglich. Beginnen wir Gespräche mit Offenheit – «Wie denkst du denn darüber?» – erlauben wir uns selbst, an der anderen Perspektive zu wachsen. Das muss Erziehung leisten, und das können Lehrer:innen und Eltern jungen Menschen auch vorleben.
Tomáš Zdražil, Fachmann im Bereich der anthropologischen Grundlagen der Waldorfpädagogik, erinnert an ein Pandemiekunstwerk in New York: Vor dem Gebäude der Vereinten Nationen standen im März 2021 168 leere Schultische und -stühle, und auf der Tafel stand «Abwesend: 168 Millionen Kinder». Nicht nur in der Waldorfwelt verstehen wir, dass man verpasste Inhalte meist nachholen kann: Was uns wirklich fehlt, wenn wir nicht zur Schule gehen können, sind die anderen Menschen. In einer guten Schule werden wir aneinander und an der Begegnung mit der Welt gesund.
Veränderte Realitäten
Kathy MacFarlane, Kindergärtnerin aus Neuseeland, beschreibt, dass vor 30 Jahren die meisten Kinder noch alles essen konnten; dass sie in der Lage waren, unabhängig zu spielen und dass sie seelisch jede Art von Geschichte verarbeiten konnten. Heute hat eine gefühlte Hälfte der Kinder Allergien. Statt Spiele täglich neu zu erfinden, orientieren sie sich an Angebot und Erwartungen der Erwachsenen. Auf Geschichten reagieren sie oft entweder überfordert oder gelangweilt. Was ist anders geworden?
Pädagogische Inhalte und Prozesse haben sich nicht geändert, sondern sich neuen Realitäten angepasst. Denn es fehlt den Kindern an Resilienz, sowohl gesundheitlich wie auch seelisch. Damit ist die Fähigkeit gemeint, eigene Bedürfnisse zu erkennen und sich selbst- und zielbewusst um ihre Erfüllung zu kümmern. Menschen müssen lernen, zu erkennen, was hilfreich und gesund von außen kommt und wie die authentische innere Stimme klingt. Natürlich ist das eine allmähliche Entwicklung – sie altersgerecht und nachhaltig zu ermöglichen, ist eine pädagogische Grundaufgabe. Es wäre zu einfach, für mangelnde Resilienz ausschließlich neue Medien und mangelnde frühkindliche Bewegung verantwortlich zu machen, obwohl sie eine wichtige Rolle spielen.
Konsequenz der Sitzkultur
Die meisten Kinder werden morgens zur Schule oder zum Kindergarten gefahren. Ihre Gliedmaßen berühren kaum den Boden, sie atmen rekonstruierte Autoluft, sie können ihren gerade erwachten Körper nur unvollständig bewohnen. Es gibt gute Gründe, warum das alles so ist, aber die von uns geschaffene, passive Sitzkultur hat unbestreitbar Konsequenzen: Der menschliche Wille wird durch sie geschwächt.
Das tägliche Erlebnis, dass Kindern ohne ihr aktives Zutun Erziehung, Unterricht und auch Unterhaltung ermöglicht werden, erzeugt langfristig eine Erwartungshaltung: dass im Leben alles ohne Anstrengung erreichbar sein sollte, dass ihnen Dinge zustehen, ohne dass sie erarbeitet oder verdient werden müssen. Dieses Phänomen wird zwangsläufig gesellschaftliche Auswirkungen haben, wenn diese Generation mitten im Leben steht. Meine Kolleg:innen und ich bemerken bereits jetzt bei jungen Studierenden in der Lehrer:innenbildung, dass sie immer seltener aus eigenem kreativen Forschungstrieb arbeiten und immer häufiger nach klaren Vorgaben und anerkennender Bewertung verlangen.
Ein einfach umzusetzender, überzeugender Lösungsansatz könnte der tägliche Fußweg zur Schule sein, schlägt Michal Ben Shalom aus Israel vor: Schon nach 20 Minuten atmen Kinder freier, gehen aufrechter, stärken ihre Muskulatur und entwickeln Aufmerksamkeit für ihre Umgebung. In der Schule kommen sie mit angeregtem Kreislauf und bewusst erfasstem Gliedmaßensystem an. Sie bewohnen ihren Körper, sind präsent und sozialfähig. Das seit der Pandemie immer häufiger zu beobachtende, schulverweigernde Kind würde das Klassenzimmer einfacher betreten, wenn es eine Viertelstunde Fußweg hinter sich hätte, als wenn das elterliche Auto noch sichtbar auf dem Parkplatz steht.
Manche Schulen haben dafür Systeme entwickelt: Neuntklässler:innen, die mit den Kleinen achtsam vom Bahnhof zur Schule gehen oder Laufbusse, bei denen sich in Gehweite wohnende Eltern dabei abwechseln, mit Kindergruppen bei jedem Wetter zu Fuß zu gehen. Die Gemeinsamkeit spielt auch hier eine wichtige Rolle: Um Mensch zu werden, müssen wir uns innerlich und äußerlich bewegen. Tun wir das gemeinsam, lernen wir effektiver, freudevoller und nachhaltiger.
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