Ausgabe 09/24

Erzählen heilt

Angelika Lonnemann

28 Kinder sitzen im Kreis und sind ganz still, einige sitzen mit offenem Mund da und schauen ihre Lehrerin an. Sie hören zu, was Michaela Kfir von einer Horde Elefanten erzählt, die auf dem Weg zu einer Wasserstelle ist. Der eine Elefant läuft nicht in der Gruppe mit. Er ist ganz allein, fühlt sich ausgeschlossen, wird traurig und zunehmend wütend. «Am liebsten würde ich den anderen Elefanten jetzt wehtun», denkt er und schnaubt. Die Klasse lauscht gebannt, dann sagt ein Kind «Das kenne ich!». Kfir reagiert nicht auf den Zwischenruf, sondern bleibt im Erzählen und lässt «die Situation bewusst so stehen». Das Ziel, das sie mit dieser Geschichte erreichen wollte, hat sie erreicht. Das Kind kann sich identifizieren, sich sogar darüber äußern und die Klasse kann Empathie entwickeln für jemanden, der gerade außensteht. Und dann beginnt der Unterricht.

Die tägliche erste Geschichte, die sich Kfir selbst ausdenkt, hat viele Funktionen für Kfir. «Für mich ist es ein wunderbares Element, zu Beginn des Tages in die Atmosphäre der Klasse einzusteigen.» Der Schultag der Kinder im Klassenzimmer beginnt mit Freispiel oder Parcours über die Kissen und Bänke oder mit selbstständigem Arbeiten. Dann erzählt Kfir eine kurze Geschichte wie die von den Elefanten, in der sie soziale Situationen der vergangenen Tage aufarbeitet. Oder sie erzählt Geschichten von zwei Hasen oder von Blüten, Büschen oder einem Frosch, auf die sie in ihrem Garten getroffen ist. Manchmal bringen auch die Kinder einzelne Blümchen mit, die Geschichtenauslöser sein können – Kfir ist es wichtig, mit den Geschichten eine achtsame Haltung der Natur gegenüber zu entwickeln. Im Laufe des Schultags bekommen auch die Pinsel, wenn gemalt wird, oder die Flötentöne Namen und Bilder und damit eine eigene Geschichte – auf eine bestimmte Weise werden sie damit zum Leben erweckt.

Märchen beendet den Schultag


Der Schultag für die Erstklässler:innen endet immer mit einem Märchen, das in rund 20 Minuten erzählt wird. «Wenn ich die Märchen erzähle und mich auch selbst auf die Urbilder einlasse, dann bin ich selbst so fasziniert, da öffnet sich ein Raum in mir. Das erlebe ich auch für mich selbst als heilsam. Und wenn in mir diese Bilder entstehen und ich in den Bildern bin, dann habe ich die Aufmerksamkeit und das Mitgefühl der Kinder. Und je lebendiger ich die Bilder ausmale, desto mehr teilen wir den Raum. Wenn mir das nicht gelingt, dann verlieren auch die Kinder die Verbindung zur Geschichte und machen irgendwas anderes», so Kfir.

Kinder erleben in der heutigen Zeit kaum noch gefährliche Situationen, sie spielen nicht mehr stundenlang ohne erwachsene Aufsicht auf den Straßen oder im Wald, sie leiden keinen Hunger und meist auch keine lebensgefährlichen Krankheiten. In den Märchen sind die Protagonist:innen in Not. Sie sind mit scheinbar aussichtslosen Situationen konfrontiert. Kfir findet es in dieser Zeit noch wichtiger, Kindern von solchen Situationen zu erzählen, weil man sie heute so stark schützt vor allen möglichen Gefahren und Herausforderungen. «Das machen wir als Eltern ja alle, das ist nicht böswillig – aber es führt auch dazu, dass wir Kindern immer weniger zutrauen», so Kifr. Und in den Geschichten, da dürfen sie Faustkämpfe austragen, mit Drachen kämpfen, sich durch Dickichte schlagen oder Hexen überlisten.

Auch wenn neue Schüler:innen in Klassen kommen, können Geschichten seelische Türöffner sein: Als in die Klasse der Mentorin von Kfir ein neues Mädchen kam, das Muslima war, da erzählte die Lehrerin ihrer Klasse das Märchen Rosenhold und Lilienfein nach der mittelalterlichen Sage Flore et Blancheflor von der Liebe zwischen einem muslimischen Prinzen und einer christlichen Prinzessin, wo am Ende Liebe und Toleranz über Trennung und Unterschiede dominieren.

Gemeinschaft bilden


Auch wenn vieles in der Waldorfpädagogik im Umbruch ist und Schule von vielen neu gedacht wird, das Erzählen möchte Kfir auf jeden Fall als pädagogisches Mittel erhalten. «Für mich sind die Erzählungen ein sehr wichtiges Mittel, Gemeinschaft zu bilden, gerade jetzt im ersten Schuljahr, wo wir uns alle kennenlernen.» Konkret bedeutet das, wenn in den Anfangsgeschichten alle Konflikte oder Besonderheiten einzelner Schüler:innen gespiegelt werden, dann bekommt jedes Kind diese Informationen über die anderen Schüler:innen mit.

Rückmeldungen von Eltern


Eltern berichteten Kfir davon, wie sich die Sprache der Kinder entwickelt durch die Geschichten. Sie verwenden neue Wörter. Das Geschichtenerzählen entwickelt also auch das Sprechen, es lädt ein, in ganzen Sätzen zu sprechen und die Worte sorgfältig auszuwählen.

Einmal hat Kfir das Grimmsche Märchen von der Gänsemagd vorgelesen, statt es zu erzählen. Das Vorlesen nimmt übrigens deutlich weniger Zeit ein als das Erzählen von Märchen. Während des Lesens stolperte sie über die brutale Szene, als dem von der Königstochter geliebten Pferd Fallada der Kopf
abgehackt wird und dieser dann über das Tor genagelt wird, durch das die Heldin täglich gehen muss. Aber Kfir liest trotz ihres kurzen Zögerns weiter. Nachträglich sagt sie: «Hätte ich mich besser vorbereitet und die Geschichte erzählt, statt gelesen, hätte ich diese Szene ganz anders erzählt.» Prompt meldete sich am folgenden Tag eine Mutter, dass ihr Kind nicht einschlafen konnte, weil es immer an den armen Fallada denken musste.

Das eigene Berührtwerden


Als Kfir ein Kind war, da las und liebte sie die Narnia-Bücher und Astrid Lindgrens Roman Ronja Räubertochter und hat mit ihrer Freundin immer wieder die Abenteuer und Geschichten nachgespielt. Ihre eigenen Töchter lesen längst selbst und ein bisschen bedauert Kfir, dass sie ihre Ausbildung zur Waldorflehrerin und damit die Anleitung zum Geschichtenerzählen erst jetzt gemacht hat, wo ihre Töchter schon älter sind. «Im Studium hat man uns Mut gemacht, auf die eigene Kreativität beim Geschichtenfinden und Geschichten­erfinden zu vertrauen – das hätte ich nachträglich betrachtet gern schon als junge Mutter getan.»

«Der goldene Schlüssel»


Am ersten Schultag und seither immer mal wieder hat Kfir die Geschichte vom goldenen Schlüssel erzählt. Das Märchen stammt aus dem Buch Der goldene Schlüssel. Anregungen für den Hauptunterricht von Ludger Helming-Jacoby. Darin macht sich ein Königssohn mit einem guten Herzen auf die Suche nach einem Schatz, der in einem Berg verborgen sein soll. Nur gemeinsam mit einer anderen Königstochter kann er viele Hindernisse überwinden. Helfen tut ihnen dabei der goldene Schlüssel, den ihnen eine alte Frau überreicht mit der Aufforderung, sich auch bei Dornen und in der Finsternis Mut und Zuversicht zu erhalten.

Wenn ein Kind in Michaela Kfirs Klasse Geburtstag hat, dann bekommt es den Spruch der alten Frau feierlich aufgesagt und dann einen kleinen metallischen Schlüssel an einem Band überreicht. «Alle Kinder haben in diesem Schuljahr auf ihren Geburtstag hingefiebert, damit auch sie endlich den Segenswunsch und ihren Schlüssel bekommen. Das Märchen ist wahnsinnig kraftvoll und die Kombination aus dem Wunsch nach Kraft und Zuversicht für das Individuum und Kraft und Hilfe durch die Gemeinschaft bündeln in idealer Weise, was in dieser ersten Klasse passieren soll. Jedes Kind soll gesehen werden in seiner Eigenheit und die Erfahrung machen, dass manches nur in der Gemeinschaft funktioniert», so Kfir.  

Kfir erlebt das Erzählen von Märchen und Geschichten als eine große Bereicherung für ihr eigenes Leben. «Ich erkenne in mir selbst plötzlich viel mehr Lebendigkeit, ich komme in ein ganz anderes Staunen über die Welt.» Dieses Staunen und das Interesse an der Welt an die Schüler:innen weiterzugeben, empfinde sie als die größte und schönste Aufgabe ihres Lehrerinnendaseins.

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