«Ist Russland eigentlich böse, Mama?» – Ich stocke. Puh, was für eine Frage, kurz nach dem ersten Kaffee! «Russland ist nicht böse», sage ich schnell und lenke unser Auto in den Kreisverkehr. «In Russland lebt in diesem Augenblick eine Familie mit drei Buben in eurem Alter und die gehen in eine russische Schule und wünschen sich nichts mehr, als dass es Frieden gibt. Und das weiß ich sicher.»
«Woher weißt du das? Kennst du die?» – «Nein, aber es muss so sein.» Schweigen auf der Rückbank. Wir parken vor der Schule. Die Jungs steigen aus, packen ihren Schulranzen und winken mir flüchtig zu. Ich stelle mir die russischen Jungs vor, von denen ich erzählt habe, und überlege einen Moment, was sie wohl zu ihrer Mutter sagen, bevor sie gehen, abgesehen mal von «paka, мама!».
Worüber die russische Mutter gerade jetzt wohl nachdenkt? Denkt sie an den Frieden? Und wie kann sie und ich und all die anderen Eltern auf der ganzen Welt ihren Kindern «Frieden beibringen»? Geht das überhaupt? Können wir Frieden «lehren», in einer Welt, in der Krieg stattfindet?
1. Zu Risiken und Nebenwirkungen
Als mein ältester Sohn zwei Jahre alt war, gingen wir jeden Mittwoch zusammen zu Fuß zum Hofladen eines Demeterhofes. Da kauften wir ein und die Bäuerin war in meinem Alter und hatte einen gleichalten Sohn. Wir standen also da und unterhielten uns, unsere Kinder voll im Schurwoll-Idyll gekleidet und mit rotglühenden Bäckchen, beide fernseherfrei und computerfrei und was-nicht-alles-noch-frei und wir mit fettem Heiligenschein. Und was machten unsere Jungs? Die rannten mit zwei Stöcken in der Hand über den Hof und brüllten: «Bam! Bam! Bam! Ich erschieße dich! Du bist jetzt tot!»
Ich zuckte innerlich zusammen, mein Heiligenschein bekam Grünspan-Flecken und ich war schockiert. Dabei hatten wir doch wirklich alles richtig gemacht, oder? Wie konnte es sein, dass ein Zweijähriger bei nächster Gelegenheit zur Waffe griff?
Ich habe seitdem noch zwei weitere Jungen bekommen und Waffen sind ein allgegenwärtiges Thema bei uns. Es hält sich sogar deutlich länger als «Bagger!» und «Schneeräumer!» und übertrumpft vermutlich bald «ferngesteuertes Auto»! Wir sind jetzt, elf Jahre später, abgebrühter und heiligenscheinfreier, denn der wurde inzwischen durchlöchert, wie ein Sieb. Bam, bam, bam!
Und was haben wir falsch gemacht? Eine Freundin versuchte mich zu beruhigen und sagte: «Solange die Welt noch voller Gewalt und Krieg ist, kannst du nichts dafür. Kleine Kinder und insbesondere Jungen scheinen diese Energie irgendwie aus dem Äther zu saugen.»
Aber müssen die eigentlich so weit gehen, bis zum Äther? Sind Gewalt, Macht und Ohnmacht wirklich ein Thema weit, weit weg? Mal Hand aufs Herz.
2. «Kommunikation – das Erstaunliche ist ja, wenn sie funktioniert»
Man muss eigentlich nur einen winzigen Blick in die sozialen Medien werfen, oder offline auf eine Diskussion ganz in unserer Nähe. Wie oft fühlen wir uns angegriffen und schießen zurück? Wie oft ist es schon schwierig, nur unterschiedlicher Meinung zu sein? Wie oft muss man sich für ein Gespräch rüsten, beim Chef zum Beispiel? Wie gut funktionieren auch unsere Verteidigungsmechanismen im Kontakt mit anderen? Wir werfen uns Wortbrocken wie Handgranaten zu, sobald es um politische Ansichten geht.
Und wie gut sind wir darin, Konflikte friedlich und offen zu klären, ganz unabhängig von politischen Ansichten, sagen wir, in einer Ehe? In einer Schulkonferenz? In der Elternschaft? Zwischen Lehrkräften und Eltern? Und wie ist das nun mit dem, was unsere Gedanken in unseren Köpfen so treiben? Wie gewaltfrei und friedlich sind die eigentlich so? Wir haben Szenarien im Kopf von Krieg und Tod, Schmerz und Krankheit. Wir lassen der Gewalt jedes Mal ein bisschen Nahrung da, wie einer ungebetenen Katze, die man einmal angefüttert hat und die man einfach nicht mehr loswird.
3. Was das Ego uns erzählt
Für das Ego ist, dieselbe Meinung zu haben, gleichbedeutend mit Liebe und Anerkennung. Und wir sehnen uns nach Liebe und Anerkennung und fühlen uns zurückgestoßen, sobald jemand eine ganz andere Meinung vertritt als wir. Denn unser Ego erzählt uns diese Geschichte: Sobald der andere eine abweichende Ansicht hat, greift er uns eigentlich an. Oder?
Die Amerikanerin Byron Katie hat nach jahrelangen psychischen Problemen eine wunderbare Gegenmaßnahme für dieses gewaltvolle Denken entwickelt: Überprüfe deine Gedanken. Stimmt es denn, dass der andere mich ablehnt, ja angreift, nur, weil er etwas anders sieht oder denkt als ich? Könnte es auch sein, dass er einfach nur eine etwas andere Ansicht hat, eine von einer Million Sichtweisen, die es gibt und dass er gar nichts gegen mich hat? Vielleicht ist seine Perspektive anders, weil er an einem etwas anderen Punkt steht.
4. Fehlerkultur
Wir wachsen in einer Leistungsgesellschaft auf und haben gelernt, dass Leistung wichtig ist. Selbst diejenigen von uns, die früher mal auf eine Waldorfschule gegangen sind und das Glück hatten, nicht schon ganz früh Noten zu bekommen. Irgendwann wurden wir eben doch beurteilt. Wir haben also gelernt, es gibt gutes Verhalten und richtiges Verhalten und das führt zu guten und richtigen Ergebnissen und die sind gefragt.
Umso schwieriger ist es, auf Fehler aufmerksam zu machen oder aufmerksam gemacht zu werden. Jeder Fehler ist also wieder ein Grund zum Krieg. Den Krieg gegen uns selbst, oder gegen andere. Als Fehler empfunden werden kann ja so ziemlich alles. Streit zwischen Kindern («Deiner hat geschubst!»). Ein Hinweis der Lehrpersonen über das Verhalten des eigenen Kindes («Unkonzentriert!»). Ein Kommentar über die Mediennutzung von einer anderen Mutter («Da gibt es ja Eltern, die lassen ihr Kind STÄNDIG fernsehen!»). Gespräche über die Bazar-Beteiligung – oder Nicht-Beteiligung. Geburtstagskuchen-Vergleiche («Ich hab meinem Kind jetzt einen gekauft» – «Waaaas? Du backst nicht selber?»). Die Frage, wie viele Hobbys dein Kind haben darf. Die Liste ist endlos.
Vor einigen Jahren bin ich über das Wort «Fehlerkultur» gestolpert und es hat mich sofort berührt. Allein nur dieses Wort. In manchen modernen Firmen wird die Fehlerkultur eingeübt. Da wird gefeiert, wenn jemand einen Fehler entdeckt oder eingesteht, denn jeder Fehler ist eine Chance, noch besser zu werden. Jeder Fehler ist eigentlich ein Grund zur Freude. Diesen Gedanken fand ich genial und versuche mich selbst oft an ihn zu erinnern.
5. Und wann kommt jetzt eigentlich der Teil mit der Erziehung zum Frieden?
Ganz ehrlich? Das kann man getrost vergessen. Wenn wir uns an jeder Ecke angegriffen fühlen und selbst, wenn wir auch nur innerlich ständig in Streit mit anderen oder uns selbst stehen, ist eine sogenannte Erziehung zum Frieden vollkommen unsinnig. Das ist wie der übergewichtige Fitnesstrainer, dem glaubt einfach niemand.
Wenn wir es schaffen, immer öfter zu friedlichen Gedanken zu finden und uns nicht zu empören, aber auch uns nicht selbst zerfleischen wegen kleiner Fehler, dann ist das genug Erziehung zum Frieden und damit werden wir wohl auch noch eine Weile beschäftigt sein. Mehr können wir kaum tun. Und doch ist es viel, denn das hat Kraft. Natürlich kann es diesen Krieg nicht beenden, der zwischen Ländern tobt – und doch glaube ich an diesen Satz aus dem Film Dinotopia: «Ein Wassertropfen hebt den Ozean an.»
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