«Es ist was es ist sagt die Liebe», so der Dichter Erich Fried 1983. «… was es ist, sagt der Verstand», fügt die Deutschpop-Band mia. genau 20 Jahre später hinzu. Ist es denn so einfach? Zerbrechen sich doch Menschen seit Jahrtausenden den Kopf darüber, was Liebe eigentlich ist. Kein anderes Thema ist eine so unerschöpfliche Quelle der Inspiration in Kunst, Musik und Literatur; tief menschliche und mystische Erfahrung zugleich. Liebe ist Gefühl, Handlung, evolutionärer Trick und Ausdruck des Göttlichen.
Beginnen wir mit den biologischen Basics: Liebe sichert unser Überleben. Wir müssen kooperieren, um uns fortzupflanzen, Kinder aufzuziehen, Nahrung zu finden. Mit anderen zusammenzuleben, kann aber sehr anstrengend sein. Laut der Evolutionsbiologie ist die Liebe deshalb eine ziemlich geschickte Erfindung der menschlichen Entwicklung. Durch die Liebe kommen wir gerne und immer wieder mit anderen zusammen. Und das ist neurochemisch gut untersucht: Das Gehirn schüttet je nach Kontext einen Chemiecocktail aus, der für bestimmte Gefühle und Verhaltensweisen sorgt – verknalltes schnelles Herzklopfen und weiche Knie gehen zum Beispiel auf einen Anstieg des Adrenalinspiegels zurück. Die meisten Mütter schütten bei der Geburt ihres Kindes unter anderem Oxytocin aus, ein körpereigener Schmerzstiller und Bindungshormon.
Außerdem hängen Berührung und die Ausschüttung von Oxytocin eng miteinander zusammen. Und nicht nur das: Studien zeigen, dass Kinder, die häufig liebevolle Berührungen erlebt haben, als Erwachsene stabilere Beziehungen führen und besser vertrauen können. Unsere Fähigkeit zu lieben, ist jedoch nicht nur neurochemisch geregelt, sondern wird auch gesellschaftlich beeinflusst. Frühkindliche und spätere persönliche Erfahrungen, Normen und Tabus, die sich über Jahrhunderte hinweg verändert haben, prägen, welche Arten der Liebe wir für akzeptabel halten, wie wir Liebe ausdrücken und sogar, wie sie sich anfühlt und wie fähig wir sind, zu lieben.
Ein Gastmahl mit Eros
Im alten Griechenland und in der römischen Gesellschaft wurde meist vor allem außerhalb der Ehe geliebt. Die Ehe war eine soziale und wirtschaftliche Institution, Liebe, wie wir sie heute begreifen, spielte da weniger eine Rolle. Wie die Elite über die Liebe nachdachte, zeigt einer der wichtigsten philosophischen Texte über die Liebe, Platons Gastmahl (symposium). Darin treffen sich ein paar Freunde im Haus des Dichters Agathon und huldigen, sinnierend über die Liebe, dem Gott Eros. Einflussreiche Beiträge kommen von Komödiendichter Aristophanes und Platons Lehrer Sokrates. Liebe nach Aristophanes kommt ganz den heutigen Disneyvorstellungen der Liebe gleich: Es gehe um die Suche nach der besseren Hälfte. Diese Ansicht geht auf Aristophanes‘ Schöpfungsmythos des Kugelmenschen mit vier Armen und Beinen zurück, den Zeus irgendwann zweiteilte. Seitdem suchten die Menschen nach ihrem entsprechenden Gegenüber. Blödsinn, sagt Sokrates. Statt der Vollkommenheit durch eine wiedergefundene verlorene Hälfte, ist Liebe eine Suche nach Erkenntnis, nach dem absolut Schönen und Guten. Er sieht die Liebe angelehnt an Platons Liebesleiter als Prozess, beginnend mit körperlicher Liebe hin zur höchsten Form geistiger Erkenntnis. Sokrates‘ und Platons Definitionen von Liebe sind eng miteinander verbunden. Für Platon ist die Liebe jedoch ein metaphysisches Prinzip, das uns zur absoluten, reinen Schönheit führt. Eine Form, die der universellen, göttlichen Liebe oder agape gleichkommt, die später im Neuen Testament als «Liebe Gottes zu den Menschen» vorkommt. Die sogenannte platonische Liebe meint also ursprünglich eine geistige, nicht-körperliche Liebe, auf der Suche nach der idealen Schönheit. Ähnlich klingt Aristoteles‘ Liebesbegriff. Der war beim Gastmahl nicht eingeladen, beschäftigte er sich statt mit eros, der leidenschaftlichen Liebe, doch bevorzugt mit der unaufgeregteren philia, einer auf Tugend basierten Freundschaft. Sie zeichne sich dadurch aus, dass man anderen Gutes wünsche, unabhängig von den eigenen Interessen. Laut Aristoteles ist sie auch die Kraft, die Gemeinschaften zusammenhält. Ein ganzes Buch wird der vor allem sinnlichen Liebe in der Bibel gewidmet. Das Hohelied Salomos beschreibt die Liebe in bildhafter und leidenschaftlicher Sprache. Dabei werden Sehnsucht und Hingabe als etwas Schönes, Erfüllendes und von Gott Gesegnetes dargestellt. Sie wird unter anderem als unüberwindbar, wertvoller als materieller Besitz und als etwas, das nicht schnell erzwungen werden kann, beschrieben. Das Christentum prägte die Vorstellung von Liebe außerdem stark, indem es die Ehe als göttliche Institution festlegte. In Form der Minne regelte sie die Beziehung zwischen Mann und Frau in der höfischen Gesellschaft des Mittelalters. Während die hohe Minne ein unerreichbares Ideal war, zeigte die niedere Minne eine realere, oft körperliche Liebe. Daneben gab es die geistliche Minne, die die Liebe zu Gott in den Mittelpunkt stellte.
Liebe in der Neuzeit und Moderne
Revolutionär waren die Vorstellungen der Liebe in der Renaissance: Es ging um individuelle Vorstellungen der Liebe und Liebe als Grundbaustein für die Ehe entwickelte sich. Diese war für die europäischen Aufklärer vor allem ein rationaler Vertrag unter Gleichberechtigten.Verklärte, häufig tragische Liebe und Sehnsucht, Liebe als Schicksal, war ein prominentes Thema von Literatur und Kunst in der Romantik.
Goethes Die Leiden des jungen Werther ist wohl eines der bekanntesten romantischen Werke, die diese Art der Liebe thematisieren. In dieser Zeit wie auch in der Antike gab es ein großes Spannungsfeld zwischen Ideal und dem, was in diesen Gesellschaften tatsächlich gelebt wurde. Die Idee, eine Ehe zu schließen, weil man sich wahrlich liebt, wurde erstmals 1761 von Jean-Jacques Rousseau propagiert und hat sich dann langsam in Europa ausgebreitet. Die Ehe als Institution des Patriarchats, in der meist Frauen wirtschaftlich und emotional abhängig sind, ist auch heute noch beständige Norm in vielen Teilen der Welt. In unseren Breitengraden wird Liebe häufig als etwas Euphorisches, einem romantischen Imperativ Innewohnendes beschrieben. Liebe überwinde alle Hindernisse, wir suchen uns nicht aus, in wen wir uns verlieben – das kann uns auch ausliefern bei Manipulation oder Übergriffigkeit. So beschreibt Simone de Beauvoir 1949 in ihrem Werk Das andere Geschlecht Liebe nicht nur als persönliche Erfahrung, sondern auch als gesellschaftliches Konstrukt, das oft zur Unterdrückung von Frauen beiträgt. Frauen geben sich laut de Beauvoir in der Liebe oft selbst auf, während Männer unabhängig bleiben und ihre Identität bewahren. De Beauvoir fordert, Liebe als gemeinsame Entwicklung auf Augenhöhe zu verstehen. Die feministischen Forderungen de Beauvoirs prägten die sexuelle Revolution der 1960er-Jahre, in der Liebe zunehmend als persönliches Glück statt als gesellschaftliche Pflicht gesehen wurde.
Heute: Liebe postkapitalistisch
Zwar herrscht das Ideal der Ehe und Kernfamilie immer noch vor, jedoch stellen heute viele, vor allem feministische Autor:innen diese Normen infrage und untersuchen machtkritisch Liebe in der heutigen Gesellschaft. Laut der Soziologin Eva Illouz wird in der Moderne Liebe nicht mehr nur als tiefe emotionale Bindung gesehen, sondern auch als etwas, das analysiert und optimiert werden kann – etwa durch Paartherapie oder Selbsthilfebücher. Romantische Liebe werde stark von Marktmechanismen beeinflusst.
Dating-Apps, romantische Geschenke an Valentinstag oder Beziehungsratgeber sind Beispiele für eine Industrie, die unser Verständnis von Liebe prägt. Die amerikanische Sozialwissenschaftlerin und Feministin bell hooks sieht in der Liebe ein generelles Wohlwollen anderen Menschen und sich selbst gegenüber sowie die Bereitschaft aneinander zu wachsen. Liebe ist für hooks politisch. Für sie brauchen wir Liebe als Fundament für gesunde Gesellschaften. Machtmissbrauch und Kriege führt sie zurück auf einen Mangel an Selbst- und konsequenterweise auch Nächstenliebe.
Ähnlich bezeichnet der deutsche Philosoph Erich Fromm vierzig Jahre vor hooksʼ Werk die Liebe als «Willsensakt», also «sowohl eine Absicht als auch eine Handlung», und definiert sie weiter als «den Willen, sich selbst zu erweitern, um das eigene oder das spirituelle Wachstum eines anderen zu fördern». Diesen Punkt unterstreicht auch der Psychotherapeut John Welwood. Dieser fragt in seinem Buch perfect love, imperfect relationships warum wir Menschen solche Schwierigkeiten in Beziehungen haben, Herzen brechen und übelnehmerisch werden, wenn Liebe doch im Kern bedingungslos ist. Er unterscheidet zwischen der essenziellen Liebe – eine universelle Liebe, die über persönliche Bedürfnisse und Erwartungen hinausgeht und unserer wahren Natur entspringt – und der persönlichen Liebe. Diese entsteht in menschlichen Beziehungen und ist oft mit Bindung, Erwartungen und Mustern verknüpft. Welwood betont, dass viele Menschen in ihren Beziehungen nach essenzieller Liebe suchen, aber nur persönliche Liebe praktizieren. Das führe zu Enttäuschungen, weil keine Beziehung eine innere Leere vollständig füllen könne. Diese Leere, die «Kernwunde des Herzens», sei ein grundlegendes Gefühl der Trennung, das dafür sorgt, dass wir Menschen Schwierigkeiten haben, die wahre Essenz der Liebe zu erfahren, obwohl wir uns paradoxerweise alle so sehr nach ihr sehnen. Auf Liebe als universelle, transformative Kraft weist auch die Politologin Emilia Roig in ihrem Buch Lieben (2024) hin. Liebe geht laut Roig über konventionelle romantische Vorstellungen hinaus und verbinde uns letztendlich mit dem gesamten Kosmos. Sie kritisiert die im Patriarchat kultivierten Konzepte der romantischen Liebe und plädiert für die verbindende Kraft der Liebe, die zu mehr Gerechtigkeit und positiver Transformation in der Gesellschaft beiträgt. Wie wir über die Liebe gedacht haben, hat sich stets verändert, konstant und universell jedoch bleibt ihr Kern. Sie ist Quelle des Lebens und der Transformation und sagt: es ist.
Kommentare
Es sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar hinzufügen
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.