Der Titel ist bewusst gewählt: Es geht hier nicht um eine vereinfachte Darstellung von Goethes Farbenlehre und auch nicht um einen weiteren Beitrag zur ewigen Diskussion Goethe contra Newton. Vielmehr sollen wir im Geist Goethes Farben neu sehen lernen. Nichts weniger als einen Paradigmenwechsel in den Farbbetrachtungen der Leser:innen möchte Seeing Colour erreichen.
Die große Stärke dieses Buches verdankt sich seiner Entstehungsgeschichte. Ursprünglich als Katalog einer Ausstellung am Goetheanum in Dornach entstanden, nimmt uns der Band mit auf seinen Weg, der ganz dicht an erfahr- und erlebbaren Phänomenen entlangführt und Schritt für Schritt durch eine umfangreiche und gelungene Bebilderung dargestellt wird. Der Text erscheint dabei größtenteils als Führer, der die Leser:innen im Gestus des Zeigens behutsam an die Hand nimmt und durch Vor- und Rückbezüge den inneren Zusammenhang des Gezeigten zur Erscheinung bringt. So sind es hier, ganz im Geiste Goethes, tatsächlich die Phänomene, die sprechen. Die knappen und präzisen Bildbeschreibungen lassen sich dabei durchaus als Einladung lesen, diese Phänomene vertiefend zu erkunden und eigene Betrachtungen anzustellen. Ergänzt wird der Band durch eine Übertragung von Goethes Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt ins Englische, sowie durch einen bibliographischen Essay, der knappe Einstiege in verschiedene Schwerpunkte goethanistischer Ansätze der Farbwissenschaft aufzeigt.
Zugleich merkt man dem Band die große Sorgfalt an, mit der die mittlerweile durchaus umfangreiche (auch neue und neueste) Forschung auf dem Gebiet der phänomenologischen Optik in der Tradition der Goetheschen Farbenlehre kuratiert und für ein geneigtes Publikum zugänglich gemacht wurde. Hier stehen nicht einfach verschiedene Farbexperimente nebeneinander. Vielmehr bauen die Phänomene aufeinander auf, zeigen eine reiche wechselseitige Bezogenheit und bringen so jeweils auf eigene Art die zwei fundamentalen Prinzipien des Erscheinens der Farben zum Ausdruck: Die Komplementarität und Kontinuität der Farben.
Den Autor:innen gelingt es so, ein bestechendes Beispiel dafür zu liefern, warum es nicht genügen kann, im Geiste Newtons ein Faktum der erfahrbaren Welt durch unsichtbare Elemente einer objektiven aber unerfahrbaren Wirklichkeit zu erklären. Am Ende der Reise haben die Leser:innen Farben als einen Bereich der Lebenswirklichkeit mit einer Eigengesetzlichkeit kennengelernt, indem Subjekt und Objekt komplex und vielseitig aufeinander angewiesen sind. Ein lebendiges Verständnis dieser Welt der Farben zu entwickeln, gelingt nur jenseits der starren Subjekt-Objekt-Spaltung. Die Welt der Farben so zu sehen, heißt, sie mit den Augen Goethes zu sehen. Wem daran gelegen ist, sei dieser Band wärmstens empfohlen.
Nora Löbe, Matthias Rang und Troy Vine: Seeing Colour. A Journey Through Goethe’s World of Colour mit einem Vorwort von Arthur Zajonc. Englischsprachig, 176 Seiten, Floris Books, Edinburgh 2023, 24 Euro.
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