Wenn Verena Bleffert einen Raum betritt, nimmt sie dessen Energien und die der Menschen darin deutlich wahr. Begegnet sie einer Person, merkt Verena sofort, wie diese gestimmt ist. Geht es ihr gut, ist sie unsicher oder nervös? «Das ist zum einen sehr schön, macht aber auch seelisch dünn, weil die Grenzen manchmal sehr undifferenziert sind», erzählt die 25-Jährige. «Hier war ich oft schon in der Situation, dass ich nicht wusste, gehört das Gefühl jetzt zu mir oder ist das der andere?»
Als Menschen sind wir mehr oder weniger ständig umgeben von Geräuschen, Gerüchen und visuellen Eindrücken, dabei haben wir immer gleichzeitig Gefühle. Die Welt ist ein Ort permanenter Begegnungen. Das kann bisweilen herausfordernd sein, insbesondere für Menschen mit einer hochsensiblen Wahrnehmung. Sie reagieren deutlich stärker als andere auf Umgebungsreize wie Licht, Berührung, Lärm, aber auch auf Energien und Emotionen.
«Es ist, als hätte ich ganz viele Sensoren, kleine Messinstrumente, die ihre Fühler austrecken in die Peripherie und denen ganz viel entgegenkommt», beschreibt Verena ihre besondere Wahrnehmungsfähigkeit. Das betrifft nicht nur den sozialen Raum, auch die Natur und die geistige Welt nimmt sie innerlich stärker wahr als die meisten. «Landschaften wie zum Beispiel große Berge hinterlassen in mir einen starken seelischen Abdruck», beschreibt die studierte Eurythmistin. Auch komplexe Sachverhalte sehe sie oft aus der Vogelperspektive, wodurch sie schnell Zusammenhänge erkennen und Phänomene miteinander in Verbindung bringen könne.
Persönlichkeitsmerkmal HSP
Auf Verena trifft das zu, was die amerikanische Psychologin Elaine N. Aron in den 1990ern als «high sensitive person» (kurz: HSP) bezeichnet hat. Das ist keine Diagnose, sondern ein in der Regel angeborenes Persönlichkeitsmerkmal. Aron beschrieb HSP als Personen mit einer detailreicheren Wahrnehmung, einem ausgeprägten Einfühlungsvermögen und größerem Bewusstsein für feine Veränderungen sowie einer tieferen Verarbeitung von Eindrücken. Laut der Psychologin ist der natürliche Wahrnehmungsfilter bei hochsensiblen Menschen weniger ausgeprägt. Reize aus der Umgebung rauschen ins Bewusstsein hinein und können dort für eine Überstimulation sorgen, welche wiederum körperliche und psychische Symptome wie erhöhten Puls, Nervosität oder Überreiztheit hervorruft.
«Als ich mich noch nicht so viel mit dem Thema beschäftigt habe, war die Hochsensibilität für mich oft sehr belastend», erzählt Verena. Nach einer sehr künstlerischen und behüteten Kindheit am Bodensee war die Schulzeit in der dortigen Freien Waldorfschule mit einer Klassengröße von 35 Kindern für die Eurythmistin rückblickend eine Überforderung. Die soziale Dynamik, starre Unterrichtszeiten und die vielen unterschiedlichen Inhalte brachten Verena stark an ihre Grenzen. «Ich hätte viel mehr Pausen gebraucht, um all die Eindrücke für mich zu verarbeiten und neue Kräfte finden zu können.»
Mit dem Beginn der Oberstufe und einem zunehmenden Leistungsdruck kam dann die Erschöpfung. Verena musste ein Jahr pausieren, ehe sie ihr Abitur, diesmal an einer Freien Waldorfschule im Raum Freiburg, zum Ende bringen konnte. In diesem Pausenjahr beschäftigte sie sich immer wieder intensiv mit HSP – in der Lektüre von Büchern, dem Gespräch mit Familie, Freund:innen und Bekannten sowie in therapeutischen Settings wie Sprachtherapie und Heileurythmie. Durch diese Auseinandersetzung mit Hochsensibilität als Persönlichkeitsmerkmal veränderte sich ihre Bewertung der Wahrnehmungsbegabung. Was für Verena früher mit dem negativen Gefühl «ich bin irgendwie anders als die anderen» verbunden war, bekam jetzt eine Berechtigung im Sinne von «ich darf so sein, wie ich bin». Ebenso lernte sie ihre Empfänglichkeit im sozialen Feld als Stärke zu schätzen, durch die sie Dinge ganz genau und sehr schnell versteht.
Annehmen, was ist
Leon* ist sieben Jahre alt und gerade in die erste Klasse einer Waldorfschule in Niedersachsen gekommen. Wie Verena ist auch er hochsensibel. Auf diese Tatsache hatte eine schweizerische Coachin die Eltern während einer Beratung zum Thema gesundes Essen aufmerksam gemacht – denn Hochsensibilität kann sich auch in einem auffälligen Essverhalten ausdrücken.
Leon sei schon immer empfindlicher und ängstlicher gewesen als andere Kinder. Seine Gefühle drücken sich intensiv aus. Er tue sich sehr schwer mit neuen Situationen und gehe auch nicht allein ohne ein Elternteil zu Freund:innen zum Spielen. Auch habe er schon sehr früh begonnen, die Dinge zu durchdenken, erzählt Mutter Christiane*. Mit Eintritt in den Kindergarten und dem Beginn des gemeinschaftlichen Mittagessens sei Leon dann zunehmend wählerischer bei der Auswahl von Nahrungsmitteln geworden. Das gipfelte 2021 – während der Coronapandemie – in der totalen Verweigerung von Essen und Trinken. Leons Befürchtung: Etwas könnte in ihn hineingelangen, was nicht hineinsollte. Dieser Gedanke beschäftigte ihn intensiv.
Die Essensverweigerung ging so weit, dass ein Krankenhausaufenthalt nötig wurde und Leon sich noch ein halbes Jahr nur von seinen Eltern hat füttern lassen. Im Coaching lernten Christiane und ihr Mann mit der Hochsensibilität ihres Sohnes umzugehen. Das heißt konkret: Annehmen, was ist, und stützen und stärken, wo es geht. Mit viel Zeit und Geduld gelang es Mutter und Vater, Noel wieder zum eigenständigen Essen und Trinken zu bringen. Die gemeinsame Mahlzeit im Kindergarten war bis zum Ende aber nicht mehr möglich, auch wenn Leon gerne und aus freien Stücken in die Einrichtung ging – die Erzieherinnen sind glücklicherweise sehr einfühlsam auf diese Besonderheit eingegangen. Was genau die Ursache von Leons Verhalten war, kann Christiane nicht eindeutig benennen. Es waren vermutlich einige Trigger, die ihn zutiefst verunsichert hatten. Für die Eltern ist Leons Essverhalten mittlerweile jedoch ein zuverlässiger Seismograf für Verunsicherungen jedweder Art. «Wenn etwas bei Noel nicht stimmt, drückt sich das immer zuerst beim Essen aus», so Christiane.
In der Schule funktioniert das wider Erwarten gut, auch wenn Leon sich sehr selten traut, für ihn neue Nahrungsmittel auszuprobieren. Auch der Übergang vom Kindergarten in die Schule verlief problemlos. «Erstaunlicherweise hat er das ganz gut gemeistert», erzählt Christiane. «Dazu muss man sagen, dass er auch Strategien entwickelt hat, die ihm helfen, mit bestimmten, für ihn schwierigen Situationen umzugehen.» Die Eltern hatten Leon lange auf den Schuleintritt vorbereitet, er war bereits mit dem Gelände vertraut und zwei Freunde aus dem Kindergarten sind nun mit ihm in einer Klasse. Günstige Voraussetzungen also für ein hochsensibles Kind bei einem so gewichtigen Schritt. In der Schule gibt sich Leon sehr angepasst, macht alles mit und ist fröhlich. «Im Vergleich zum Kindergarten gibt die Schule ihm klarere und fester strukturierte Abläufe mit Anleitung, was ihm mehr Sicherheit zu geben scheint», schildert Christiane ihre Beobachtung der vergangenen Wochen. Außerdem brächten die künstlerisch-kreative Unterrichtsgestaltung ihn aus dem kopfbetonten Denken stärker in den Körper und ins Fühlen.
Dennoch merkt sie am Nachmittag die Erschöpfung. «Leon ist ein Meister darin, so zu tun als wäre alles in Ordnung, nur um kein Aufsehen zu erregen.» Das kostet Kraft. Zuhause zieht er sich dann in sein Zimmer zurück und zeichnet. Nicht mit Wachsblöckchen, sondern ganz feine Striche mit dünnen Stiften. «Das sieht aus wie die Zeichnung eines Neunjährigen», so die Mutter. «Das würde er aber in der Schule nie zeigen, sonst würde er ja wieder auffallen.»
Den eigenen Lebensstil finden
Leon gehört sicher zu den glücklicheren Hochsensiblen: Seine Eltern haben früh erkannt, dass er eine Wahrnehmungsbegabung hat und begleiten ihn mit der notwendigen Feinfühligkeit. Das Zeichnen gehört dabei zu seinen Kraftquellen, bei dem er neue Energie für seinen oftmals herausfordernden Alltag tanken kann. Auch machen seine Eltern mit ihm regelmäßig vor dem Schlafengehen Traumreisen, bei denen er in eine tiefe Entspannung hineinkommt. Das hilft Leon nicht nur im Jetzt, sondern legt auch den Samen für einen bewussteren Umgang mit seiner Hochsensibilität in späteren Jahren.
Wenn Verena mal alles zu viel wird, nimmt sie sich erstmal raus, geht Spazieren oder macht Übungen aus der Eurythmie, die sie wieder im Körper zentrieren. Auch Aromaöle, wie ihr Lieblingsduft Lavendel, helfen ihr, sich zu stabilisieren. «Wenn ich in einer Situation bin, aus der ich nicht rausgehen kann, versuche ich über die Atmung wieder zu mir zu kommen», erklärt sie. «In den Bauch atmen, in die Ferse spüren, den Strom nach unten lenken.» Als erwachsene Frau ist sie sich ihrer Hochsensibilität mittlerweile sehr bewusst, auch wenn sie immer mal wieder noch mit Überreaktionen zu kämpfen hat. «Ich kriege den Punkt, wo‘s kippt, oft nicht mit. Dann breche ich einfach in Tränen aus», bekennt Verena. Auch gab es eine Zeit, während der sie nach starken sozialen Prozessen mit Panikattacken zu tun hatte. «Ich arbeite daran, zu merken, wo ist die Grenze? Das ist nicht einfach, weil die Grenze oft viel früher da ist als bei anderen.»
Mit diesem Gefühl ist Verena nicht alleine. Nach einer Vielzahl an Studien schlussfolgerte die Psychologin Elaine Aron, dass circa 20 Prozent der Bevölkerung in die Kategorie «hochsensibel» fallen. «Ich mache immer öfter Begegnungen mit Menschen, die hochsensibel sind. Die setzen sich damit aber nicht in Verbindung, weil das auch für viele abschreckend ist», erzählt Verena. Sie möchte junge Menschen dazu ermutigen, zur ihrer Hochsensibilität zu stehen, zu erfahren, was es damit auf sich hat und ein Verständnis für sich selbst zu gewinnen. Das sei auch in Schulzusammenhängen wichtig, findet Verena. Klassenlehrer:innen müssen es schaffen, eine Gemeinschaft zu bilden, in der jede:r so sein darf, wie er oder sie ist. Vor allem in der Eurythmie sieht sie hier ein großes Potential, heilend zu wirken. Hierzu möchte Verena selber einen Beitrag leisten und bildet sich unter anderem in der Heileurythmie fort. Auch beginnt sie gerade mit der Bühnenfortbildung am Goetheanum in Dornach, um die künstlerische Eurythmie zu vertiefen.
Selbstbewusst durchs Leben gehen, mit feinsinnigen Antennen und der Anerkennung für die eigenen Grenzen – das ist für Hochsensible wie Verena und Leon sicher nicht immer leicht. Hierfür braucht es auch mehr Verständnis der anderen 80 Prozent, um Menschen mit einer hochsensiblen Wahrnehmung einen stressfreieren Alltag zu ermöglichen. So war der Psychoanalytiker C. G. Jung (1875-1961) seinerzeit schon davon überzeugt, dass die von ihm hochgeschätzten «sensitiven Introvertierten» einen Lebensstil anstreben sollten, bei dem sie das Maß der Anregungen selbst bestimmen könnten.
*der richtige Name ist der Redaktion bekannt
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