In der pulsierenden Atmosphäre der Rudolf Steiner Schule Wandsbek in Hamburg, wo Vielfalt und Verständnis für unterschiedliche Kulturen im Mittelpunkt stehen, beenden Franziska Zickwolff und Svetlana Bogen gerade ihren Unterricht. Sie treffen sich zum Mittagessen und tauchen in eine lebhafte Diskussion ein, die uns einen Einblick in die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Russland gewährt.
«Die Unterschiede in unserem Verständnis von Freiheit und Verantwortung sind ein Spiegelbild unserer Kulturen und Geschichte», eröffnet Bogen, während sie Zickwolff direkt ansieht. «Und diese Unterschiede bieten uns wertvolle Lektionen über Toleranz und Respekt», ergänzt diese. «In einer Zeit, in der demokratische Werte manchmal infrage gestellt werden, ist es umso wichtiger, die Kultur und Sprache anderer zu verstehen. Der Russischunterricht an unserer Schule ist nicht nur ein Schritt in Richtung akademischer Bereicherung, sondern auch ein Statement für Offenheit und Friedensbildung.» Zickwolff führt weiter an: «Wir dürfen nie vergessen, dass Sprache mehr ist als nur Worte. Sie ist ein Fenster zur Seele einer Kultur und ein Werkzeug der Verständigung». «Nur durch das Verstehen der anderen können wir ein echtes Gefühl der globalen Gemeinschaft erreichen. Demokratie lebt von der Vielfalt und dem gegenseitigen Respekt. Und was könnte das besser fördern als das Erlernen einer neuen Sprache, in deren Strukturen die Besonderheiten der Kultur deutlich hervortreten und herauszuarbeiten sind?»
Viele Waldorfschulen unterrichten neben Englisch auch Russisch. Ihre Schüler:innen tauchen ein in die Welt der östlichen Schriftzeichen und Symbole, die in ihren Kulturen jeweils einzigartige Bedeutungen tragen. Durch das Erlernen von Sprachen aus Ost und West erweitern die Schüler:innen ihren Horizont und entdecken die Vielfalt der Weltkulturen.
In der Rudolf Steiner Schule Wandsbek lernen die Schüler:innen Englisch, Französisch, Russisch und neuerdings auch Spanisch. Im Festsaal findet das Achtklassspiel statt, während Zickwolff mit einer großen grauen Mappe unter dem Arm das Lehrer:innenzimmer verlässt. Ihr Ziel: das Klassenzimmer der 4b, 36 Kinder, darunter vier mit russischen Wurzeln. Sie sind ein Teil der rund 800 Schüler:innen dieser zweitältesten Waldorfschule.
Im Russischunterricht bei Zickwolff spürt man die Begeisterung der Kinder. «Frau Zickwolff!» rufen sie im Chor, als die Lehrerin den Raum betritt. Ihre Augen leuchten, als sie Verse auf Russisch rezitieren und ein traditionelles Lied anstimmen. «Das Gedicht ist wie ein kleines Rätsel, das wir lösen,» meint Lena, während Alex stolz hinzufügt: «Das Lied erinnert mich an meine Familie in Russland. Das macht es besonders.» Als es um das Rechnen auf Russisch geht, schießen die Hände in die Höhe. Sofia, die die richtige Antwort weiß, strahlt über das ganze Gesicht. «Wenn wir alle ‚правильно‘ (pravilno = richtig) sagen, fühlt es sich an, als wären wir ein Super-Team», erklärt Max.
Zickwolff zieht selbstgemalte Bilder aus ihrer Mappe: einen Wolf, eine Banane, einen Storch und einen Uhu. Die Kinder nennen jeweils den russischen Begriff und schreiben die kyrillischen Buchstaben an die Tafel.
Die Stimmung erreicht einen weiteren Höhepunkt, als Zickwolff ein Spiel ankündigt. Vier Gruppen zu je drei bis vier Kindern bilden sich und stellen sich in Reihen vor der Tafel auf. Die Lehrerin verteilt Zettel mit kurzen Wörtern an das jeweils hinterste Kind jeder Gruppe. «Jetzt könnt ihr euer Wissen über die kyrillischen Buchstaben zeigen», ruft sie. Die hintersten Schüler:innen beginnen, Buchstaben mit ihren Fingern auf den Rücken ihrer Vorderleute zu zeichnen. «Das ist total lustig, aber auch ein bisschen wie Detektivarbeit», kommentiert Tim, während er sich konzentriert, die Form eines Buchstabens zu erfühlen. Die Kinder, die im letzten Jahr die Druckbuchstaben und dieses Jahr die Schreibschrift gelernt haben, kommen hierbei besonders zum Zug. Es ist ein Hin und Her zwischen Konzentration und Gelächter, denn gelegentlich kommt es zu Verwirrungen. «Ich dachte, das wäre ein п, aber es stellte sich als л heraus!», lacht Sarah, als ihr Teamkamerad das Zeichen an die Tafel malt. Das Spiel verleiht dem Unterricht eine große Dynamik. «Ich liebe dieses Spiel», resümiert Niklas.
Kurz vor Ende der Unterrichtsstunde strömt die Gruppe ins Foyer der Schule. Dort erwartet sie das Highlight des Tages: der Reigen. Die Kinder bilden drei konzentrische Kreise und beginnen zu einer russischen Melodie zu singen und zu tanzen. «Der Reigen ist mein Lieblingsteil! Es fühlt sich an wie eine große Umarmung von allen,» schwärmt Lena, während sie sich im Kreis dreht. Einige Kinder schließen die Augen und scheinen ganz in der Musik und dem Gefühl der Gemeinschaft zu versinken. «Wenn wir singen und tanzen, fühle ich mich immer so ... frei», sagt Elias. Mit einem Lächeln verlassen die Kinder den Unterricht und es kommt mir vor, dass die Freude am Lernen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit weit über die Klassenzimmerwände hinausreichen.
«Jeder Krieg ist inakzeptabel», betont Franziska Zickwolff. Sprachen zu lernen ist mehr als nur ein Schulfach. Es ist ein Pfad, der Vorurteile abbaut und den Weg zu einer friedlicheren Welt ebnet. Waldorfschulen sind überzeugt: Wenn wir andere Kulturen verstehen und uns in ihre Sprachen vertiefen, kommen wir einer friedlichen Welt näher. Deshalb lehnen sie jegliche kriegerische Konflikte zwischen Völkern ab, einschließlich Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ihr Werkzeug für den Frieden? Bildung.
In der 6b ist die Stimmung ebenso entspannt wie in der vierten Klasse. Das Highlight in der ersten Gruppe ist das Navigationsspiel durch die Felsen. Die Klasse war in der letzten Woche im Elbsandsteingebirge. Ein Schüler mit verbundenen Augen wird durch russische Anweisungen wie «Drei Schritte vor», «Rechts drehen» oder «Achtung, Schlucht!» durch die Klasse geleitet. «Es ist so spannend, man weiß nie, was als Nächstes kommt», freut sich Emma. In der zweiten Gruppe wird dann gar die Lehrerin durchs Gebirge geführt – ein echter Vertrauensbeweis! Zum Abschluss findet im Eurythmiesaal ein Volkstanz statt. Alle Kinder sind dabei, die Freude ist ansteckend.
In einem Russisch-Abiturkurs entfaltet sich eine lebhafte Diskussion. Der Gegenstand: Der Meister und Margarita, ein komplexes Werk von Michail Bulgakow. Die Schüler:innen tauchen nicht nur in die Literatur ein, sondern auch in die vielschichtige russische Kultur. «Es erinnert an Faust», bemerkt Bogen. Sie erläutert, dass das Buch das Spannungsfeld zwischen Regeln und Freiheit, Moral und Schicksal offenbart.
Inmitten dieser Diskussion bemerken einige Schüler:innen, dass Kultur und Sprache mehr als nur Ausdruck sind – sie können auch Instrumente der Freiheit sein. «Fremdsprachen zu lernen, ist ein Beitrag zum Frieden», unterstreicht Bogen. Dieser Russisch-Abiturkurs ist mehr als nur ein Literaturseminar. Es ist eine Reise in die Tiefe der russischen Kultur und eine Erkundung der Freiheit durch Sprache.
Insgesamt ist der Russischunterricht an Waldorfschulen ein Spiegelbild der pädagogischen Prinzipien, die die Schule vertritt: eine ganzheitliche Bildung, die den Menschen in seiner Gesamtheit – intellektuell, emotional und physisch – zu fördern sucht.
Ausgabe 12/23
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