Feste sind Heimat in der Zeit

Günther Dellbrügger

Kinder feiern gerne Feste. Anscheinend liegt es in ihnen, sich auf Feste, schon weit im voraus zu freuen. Da das Kind alles über die Sinne aufnimmt, werden wir die Feste entsprechend gestalten: durch besondere Kleidung, Bilder, Blumen, Mahlzeiten. Das Kind erlebt das Seelisch-Geistige im Sinnlichen. Das Sinnliche ist für das Kind nichts Äußer­liches, sondern zutiefst »Sinn-volles«, Sinn tragendes. Auch wenn uns das Kind in der Fähigkeit, Feste zu feiern, voraus ist, ist es doch der Erwachsene, der das Fest in der rechten Weise gestalten muss. Zur Gestaltung gehört als allererstes die Idee des Festes, seine spirituelle Substanz: Was wird der Inhalt des Festes sein, worauf wollen wir uns im Feiern besinnen? Was den Kindern oft ganz selbstverständlich ist, muss von den Erwachsenen neu erobert werden: der innere Sinn der Feste.

Der Ursprung der Jahresfeste

In früheren Kulturen waren wir als Menschen noch viel stärker als heute eingebettet in die Natur, wir waren Teil der Natur. So hielt einer der letzten weisen Indianerhäuptlinge den barbarisch auftretenden Weißen entgegen: »You are part of nature! Behave!« Es gab Indianer, in deren Stamm es ein besonders verantwortungsvolles Amt gab, womit die Aufgabe verbunden war, jede Entscheidung der Stammes-Ältesten auf ihre Folgen für die nächsten sieben Genera­tionen zu bedenken. Wie weit sind wir bei allem techno- logischen und wissenschaftlichen Fortschritt von solcher Weisheit entfernt! Aus einer solchen, mit der Welt tief verbundenen Weisheit, wurden auch die verschiedenen Jahres­feste gestiftet. Sie waren zwar ganz in den Kreislauf der Natur eingebettet, wurden aber von Eingeweihten und deren Schülern als Kulturelement in die sozialen Zusammenhänge eingeführt, gaben den Menschen Heimat in der Zeit.

Die Feste in alten vorchristlichen Zeiten waren am Lauf der Sonne orientiert. Mit dem Höchststand der Sonne war auch der Höhepunkt des Festjahres erreicht. In großen Volks­festen vereinigten sich die Menschen zu geordneten Reigentänzen. Der Rhythmus der begleitenden Instrumente und Lieder brachte die Seelen in eine hingebungsvolle, ekstatische Stimmung. In diesem träumenden Bewusstsein gaben sie sich ganz dem Sonnenelement hin. Die Sonne war für sie nicht nur äußeres Gestirn, sondern zugleich allum­fassende Gottheit. In ihrem Sommertraum öffnete sich für die feiernden Menschengruppen das Himmelsfenster. Sie träumten ihr Ich, nahmen aber zugleich wahr, dass ihr höheres Wesen in den Himmeln geborgen und geschützt ist. Die Feste schenkten den Menschen die Möglichkeit, aufzublicken und die Empfindung: Mein Ich lebt im Schoße der Sonne, der Götter und in deren Schutz. Hier ist meine Heimat. Ein Nachklang und Abglanz dieses ekstatischen Sommertraumes begleitete die Menschen in den Herbst hinein. Sie hatten das Licht empfangen und in der darin waltenden Weisheit ihr eigenes Wesen geschaut, das aber in den Himmeln verblieb.

Empfange die Weisheit im Lichte! Das war der Sinn der großen Sommerfeste. Aus dieser Ekstase kehrte man wieder gestärkt in das Irdische zurück. Das Bewusstsein erwachte für die Umgebung. Die Todesprozesse des Herbstes weckten die Seelen. Schaue um dich, war die Botschaft der Herbsteszeit. Aus dem kollektiven Gemeinschaftsleben trat der Einzelne hervor. Nun waren seine Wahrnehmungs- und seine Verstandeskraft gefragt. Es war die Zeit, in der die Menschen Rätsel zu lösen, bestimmte Sprüche zu denken und zu verstehen hatten. Die Kräfte der eigenen Seele mussten die schwächer werdenden Sonnenkräfte ersetzen und aufwiegen. Denn so wie man im Sommer aus sich heraus und über sich hinausging, so ging man in der Winterzeit unter das Menschliche hinunter. Der Mensch war den Kräften der Dunkelheit, des Frostes, des Erdinneren ausgesetzt. Er sollte sie erleben, aber nicht ihnen verfallen. Die Winterfeste sollten ihm die Kraft geben, in der Erinnerung an das im Sommer wahrgenommene und erlebte höhere eigene Wesen dem Bösen zu widerstehen: Hüte dich vor dem Bösen, war die Botschaft der Feste im Mittwinter. Mit steigender Sonne kam im Frühling die Aufgabe, sich der Selbsterkenntnis zu stellen: Wie weit waren die Kräfte des Bösen in die eigene Seele eingedrungen? Nun zog man den Vergleich zwischen dem im vergangenen Sommer geschauten und erahnten höheren Wesen und dessen irdischer Ausprägung, die man durch den Winter hindurch erlebt hatte. Mahnend klang es durch die Feste des Frühlings: Erkenne dich selbst! Aus der gefühlten Differenz zwischen dem höheren und dem faktischen Menschen entstand die erneute Sehnsucht nach dem Himmlischen, nach göttlicher Erfüllung.

Zusammengefasst: Die vorchristlichen Feste vermitteln dem träumenden Bewusstsein in geordneten, den ganzen Menschen ansprechenden kultischen Formen die Beziehung zu seinem eigenen höheren Wesen. Sie waren Gaben der Götter, aber auch Weisung und Mahnung auf dem Weg der wahren Menschwerdung.

Zeitenwende: Jeder kann den Tod und das Böse überwinden

Wir zählen heute das Jahr 2013 nach Jesu Christi Geburt, und zwar in der ganzen Welt, wobei verschiedene Kulturkreise parallel noch eigene Jahreszählungen haben. Das Wesen, das wir als Christus bezeichnen, hat durch seine Inkarnation als Mensch, seine Passion und seine todüber­windende Auferstehung für die Entwicklung aller Menschen die entscheidende Wende herbeigeführt. Seitdem kann jeder Mensch prinzipiell die Kraft erlangen, letztlich den Tod und das Böse zu überwinden. Wir verdanken die Möglichkeit unserer freien Entwicklung als Menschen dem fortdauernden Wirken Christi. Vor zweitausend Jahren ist der Gottessohn Mensch geworden, im Sein erschienen, hat einen Leib angenommen. Heute ist es unsere Aufgabe, Aufmerksamkeit und Wachheit für seine verborgene Gegenwart zu entwickeln, ihn in unserer Seele zu suchen.

Die Tat des Christus geht allen Konfessionen voraus. In den ersten christlichen Jahrhunderten lebte eine Vielfalt von religiösen Formen. Die Gedanken und Begriffe, mit denen die urchristlichen Lehrer ihre Anschauungen formulierten, waren noch flüssig und beweglich. Dass die früheren Christen als Märtyrer den Tod nicht fürchteten, hat weithin stark gewirkt. Da wehte ein neuer Geist! Doch die revolutionäre Untergrundbewegung der Katakombenchristen wurde später zur herrschenden Staatsreligion des römischen Reiches mit Glaubenszwang und Ketzerverfolgung. Man hat diese Entwicklung zu Recht als »Sündenfall der Kirche« bezeichnet. Das freie Geistesleben wurde im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr verdrängt durch die Fixierung der Dogmen. An die Stelle des Heiligen Geistes trat die Autorität der Kirche mit ihrem Glaubenszwang.

Formen abzulehnen heißt nicht, Inhalte aufzugeben

Seit Beginn der Neuzeit, ab etwa 1500, wirken in der Menschheit neue Impulse. Martin Luther kann hier als signifikantes Beispiel angesehen werden. Er tritt als Individuum für seine persönliche Überzeugung ein: »Hier stehe ich und kann nicht anders!« Mit Beginn des Michaelzeitalters am Ende des 19. Jahrhunderts will dieser Impuls auch das Geistes- und Erkenntnisleben der Menschen ergreifen. In der Seele des modernen Menschen lebt zutiefst das Bedürfnis, alles Überkommene zu befragen und durch eigene Erkenntnisse neu zu begründen. Man kann dies bedauern, man kann aber darin auch eine große Chance sehen, besonders wenn es gelingt, Form und Inhalt zum Beispiel der christlichen Feste auseinander zu halten. So erzählte mir vor einiger Zeit jemand, der in ein südliches Land umgezogen war, von seinem ersten Weihnachtsfest dort. Es war warm, kein Weihnachtsbaum weit und breit, keine traditionelle Dekoration, kein Familienbesuch, keine Kirche. Das Weihnachtsevangelium war schnell gelesen; etwas singen, etwas musizieren und dann?

Die Situation war zunächst schockierend, wurde aber auch als fruchtbar erlebt, weil dem Betreffenden blitzartig klar wurde, wie stark die tradierten Formen im Begehen des Festes überwogen hatten. Die erlebte Leere öffnete den Blick neu und frei auf den wesentlichen Inhalt des Weihnachtsfestes. An diesem Beispiel kann deutlich werden, dass wir zwischen traditionellen, vielleicht für den Einzelnen überholten Formen und der Frage nach dem spirituellen Inhalt unterscheiden müssen.

Die Ablehnung überholter Formen muss nicht dazu führen, dass wir die Feste als solche aufgeben. Von einer anderen Seite her fordern Kinder uns heraus, die innere Deckung für das Feiern der Feste zu schaffen. Sie wollen erleben, dass die Erwachsenen im Feiern von einer Idee getragen werden und aus ihr heraus das Fest gestalten. So fragte ein Kind die Eltern, die sich auf den Weg in die Kirche machten: Macht ihr da mit oder guckt ihr nur zu?

Weihnachten heute

Ende des neunzehnten Jahrhunderts ist der Erzengel Michael zum »Zeitgeist« aufgestiegen, das heißt, er hat die Aufgabe, menschheitsweit und erdumspannend Zukunfts- impulse in den Menschen zu erwecken. Das Besondere im Wirken Michaels liegt darin, dass er geduldig auf das wartet, was die Menschen aus eigener Aktivität und Initiative beginnen, um es dann zu unterstützen, zu stärken und weiterzubringen. Michael achtet die menschliche Freiheit als ein höchstes Gut. Es ist deshalb an der Zeit, dass wir Menschen unser religiöses Leben auf freie Erkenntnis und individuelle Verantwortung gründen. Die christlichen Feste scheinen zunächst nur eine Erinnerung an vergangene Ereignisse zu sein. Ein tieferes »Er-Innern« aber führt zu einer Vergegenwärtigung der Wirksamkeit des auferstandenen Christus. Ein heutiges Weihnachtserleben kann so bei der Erinnerung an die damalige Geburt in Bethlehem ansetzen, aber hinüberführen zum Ahnen der Christus-Geburt in der eigenen Seele.

Der Kern des Weihnachtsfestes liegt in dem Gedanken einer dreifachen Geburt, wie ihn schon der Dominikaner Johannes Tauler (1300-1361) in einer Weihnachtspredigt formulierte. Zum einen liegt in der Vergangenheit, »vor aller Zeit« die Geburt des Sohnes aus dem Vatergott; dann »in der Zeit« die historische Geburt des Jesus von Nazareth, der den Sohn Gottes in sich aufnahm; schließlich die Geburt »über alle Zeit«, die Geburt eines Höheren in uns, das größer ist als wir. Nur unserer eigenen Aktivität, unserem »Mitmachen«, wird sich die dritte Geburt als Realität erschließen.

Feste ereignen sich, wo Seelen sich in Gemeinsamkeit erheben und vom Geistigen berührt und durchdrungen werden. Sie bedürfen der vorbereitenden »Schwangerschaft«, der Einstimmung, der freudigen Erwartung.

Denn erst die so errungene Intensität der Seele bildet die Präsenz und Empfänglichkeit, in die sich Geistiges hereinschenken und das Fest überstrahlen kann. So können uns die recht verstandenen Feste neu aufleuchten als »Knotenpunkte des Jahres, die uns verknüpfen mit dem Geist des Alls« (Rudolf Steiner).

Johannes Tauler

Von der dreifachen Geburt

Heute, zur Weihnacht, begeht man dreierlei Geburten in der heiligen Christenheit …

Die erste und oberste Geburt, die vor aller Zeit geschah, ist, dass der himmlische Vater seinen eingeborenen Sohn in göttlicher Wesentlichkeit gebiert. Die zweite Geburt war in der Zeit; sie ist das mütterliche Gebären in Bethlehem, das geschah in jungfräulicher Keuschheit und in rechter Lauterkeit. Die dritte Geburt ist gebunden an keine Zeit, sie ist über alle Zeit: dass Gott alle Tage und alle Stunden wahrhaft geistlich geboren wird in jeder Seele, mit Gnade und mit Liebe.

Diese drei Geburten begehen wir heute mit den drei Messen. Die erste Messe singet man in der finsteren Nacht.

Sie bedeutet die verborgene Geburt, die geschah in der finsteren Verborgenheit unbekannter Gottheit. Die zweite Messe bezeichnet den Schein der vergotteten menschlichen Natur; sie ist teils in der Nacht, teils am Tage, denn jene Natur war teils bekannt und teils unbekannt.

Die dritte Messe singet man am klaren lichten Tag.

Sie zeigt an die innigliche Geburt, die alle Tage und alle Augenblicke soll geschehen und geschieht in einer jeglichen guten heiligen Seele, wenn sie sich dazu kehret mit Wahrnehmen und mit Liebe. Denn, soll sie diese Geburt in sich befinden und gewahr werden, so muss es geschehen durch Einkehren und Wiederkehren aller ihrer Kräfte. Und in dieser Geburt wird ihr Gott also eigen und gibt sich ihr als eigen, dass nie ein Ding also eigen ward.

Zum Autor: Dr. Günther Dellbrügger ist Pfarrer der Christengemeinschaft in München.

Literatur:

Rudolf Steiner: Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, GA 8 | Rudolf Steiner: Der Jahreskreislauf als Atmungsvorgang der Erde, 31.3.-8.4.1923, GA 223 | Johannes Tauler: Weihnachtspredigt; zit. nach Barbara Nordmeyer: Licht im Aufgang. Das Weihnachtsbuch, Stuttgart 1985