Ausgabe 03/25

Formen

Stefan Grosse


Formen entstehen an der Grenze von innen und außen. Es gibt eine den Dingen inhärente Kraft und eine, die von außen auf den Körper einwirkt. Dem Wassertropfen ist die Kugelform inhärent, die wird durch äußere Kräfte, die auf ihn einwirken, verformt. Die Form ist somit der Ausdruck eines Equilibriums von inneren und äußeren Kräften. Je fester der geformte Stoff ist, desto dauerhafter ist die Form und umgekehrt. Ein Kristall besteht lange, die Form einer Wolke ist kurzlebig und wandelbar.
Lebendige Wesen bringen Formen hervor, solange sie sich entwickeln. Wenn das Leben aus dem geformten Körper gewichen ist, bleibt seine Form noch eine Weile bestehen und zerfällt dann, weil ihm die innere Kraft fehlt und somit kein Kräfteequilibrium mehr vorhanden ist, die Form in einem tieferen Sinn also keine Realität mehr darstellt. Diese Feststellung gilt für natürliche Lebewesen, lässt sich aber auch auf kulturelle, zum Beispiel Sozialgebilde oder Gedankengebäude, übertragen. Formen müssen wahr oder real sein. Sie sind es, wenn sie durch ein lebendiges Equilibrium von inneren und äußeren Kräften gehalten werden.
Aber Formen haben ein Beharrungsvermögen über diesen lebendigen Zusammenhang hinaus. Man muss dann von einer toten Form sprechen. Ein griffiges Beispiel hierfür sind große Religionsgemeinschaften. Sie laufen Gefahr, in ihren Gebräuchen und Liturgien an solchen toten Formen festzuhalten. Die Natur reguliert sich in dieser Beziehung selber, die Kultur hat die Aufgabe, diese Prozesse geistesgegenwärtig zu gestalten. Mit jeder Generation kommen neue Impulse hinzu, respektive verlieren bisher bestehende an Kraft. Nach drei Generationen oder hundert Jahren sind die Metamorphosen entweder sehr beachtlich oder aber es hat sich ein erheblicher «Renovierungsstau» aufgebaut, der sich manchmal in radikalen, das Ziel aus dem Auge verlierenden Aktionen entlädt.
Eine Schulbewegung wie die Waldorfschulen, die seit hundert Jahren besteht und ihr Ausgangssetting noch zu guten Teilen im 19. Jahrhundert verorten muss, tut gut daran, ihre Formen daraufhin zu prüfen, ob sie noch wahrhaftig sind, will sagen, ob sie durch ein lebendiges Equilibrium von inneren und äußeren Kräften gegenwärtig entstehen oder nicht.

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