In Bewegung

Schule in Freiheit

Henning Kullak-Ublick
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Wie jede Freiheit hat auch die kulturelle Freiheit eine doppelte Bedeutung: Erstens ist sie Freiheit von externen, also administrativen, ideologischen oder machtpolitischen Übergriffen, zweitens Freiheit für das eigene Tun, was die individuelle Bereitschaft einschließt, Verantwortung zu übernehmen und Verbindlichkeiten einzugehen.

Wilhelm von Humboldt schrieb über den ersten Aspekt der Freiheit vor zweihundertfünfzig Jahren: »Öffentliche Erziehung scheint mir ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit entfalten muss«, Rudolf Steiner erklärte vor hundert Jahren: »Wenn Sie nicht den Mut dazu bekommen, die Loslösung der Schule vom Staat zu erstreben, dann ist die ganze Waldorfschulbewegung für die Katz« und Alt-Bundespräsident Roman Herzog rief in seiner berühmten »Ruckrede« aus: »Entlassen wir unser Bildungssystem in die Freiheit!«

Die »Freiheit für etwas« beginnt mit der Vorbereitung auf jeden einzelnen Unterricht, geht über die Begegnung mit den Kindern, den Eltern, den Kolleg:innen und dem sozialen Umfeld der Schule bis zur Bildung von Formen der Zusammenarbeit, die Mut zu Neuem machen, Brücken bauen und immer diejenigen ins Zentrum aller Maßnahmen stellen, um die es geht: die Schülerinnen und Schüler, die wir für eine Zukunft stark machen wollen, von der wir bestenfalls erahnen können, welche Herausforderungen sie an die dann Erwachsenen stellen wird. Diese Ahnungen reichen allerdings aus, um zu wissen, dass es um den Menschen selbst, um die Zukunft unserer Erde und um die Entdeckung der Verantwortung für Menschen geht, auf deren Kosten wir seit Jahrhunderten leben.

Im Frühjahr erschien eine repräsentative Umfrage, die im Auftrag des Cornelsen Verlages, beraten durch den renommierten Bildungsforscher Klaus Hurrelmann, mit 1.100 Schulleitungen durchgeführt wurde. Das Ergebnis kann wirklich erstaunen: 82 Prozent der Schulleiter:innen sprachen sich für eine grundlegende Reform des Fächerkanons aus, ein Viertel will die klassischen Fächer ganz abschaffen und fächerübergreifend unterrichten. Nun muss ich bekennen, dass ich mich schon immer gewundert habe, warum die oft notorische Unzufriedenheit vieler meiner an einer staatlichen Schule tätigen Kolleg:innen noch nie dazu geführt hat, dass sie Roman Herzogs Ruf nach Freiheit mit der gleichen Wucht einforderten wie beispielsweise den Schutz der Lehrer vor Corona-infizierten Kindern, der von Heinz-Peter Meidinger vom Deutschen Lehrerverband anderthalb Jahre lang fast schon gebetsmühlenartig wiederholt wurde.

Aber es gibt sie, die wunderbaren Pioniere! Ein Beispiel ist Enja Riegel, deren Wiesbadener Helene-Lange-Schule beim PISA-Test – für den ich hier mitnichten eine Lanze brechen möchte – 2002 deutschlandweit mit großem Abstand als beste Schule abgeschnitten hat. Zuvor hatte sie die ganze Schule umgekrempelt, unter anderem Wände eingerissen, Begegnungsflächen für die Schüler:innen geschaffen, den 45-Minutentakt abgeschafft und Theater zum Pflichtfach erhoben. Die 25.000 Euro für die Einstellung eines professionellen Regisseurs sparte sie, indem die Schüler:innen ihre Schule selber putzten und die Schule damit, wie sie es nannte, von einem »geputzten zum putzenden System« wurde. Man könnte viele weitere Beispiele nennen, aber hier geht es um eine Besonderheit: Nach den PISA-Lorbeeren übernahmen nämlich mehrere andere Schulen das Theaterspielen und weitere Ideen Riegels, nur: Es funktionierte nicht! Es ging ihnen nämlich gar nicht ums Theater, sondern um die Leistungsmessung bei der nächsten PISA-Untersuchung. Die grundlegende Voraussetzung fehlte durch dieses »Um zu«: die unbedingte Präsenz der Lehrerinnen und Lehrer. Lernen in Freiheit gelingt nur, wenn alles seine Relevanz und Bedeutung in sich selbst trägt und nicht einem Ziel untergeordnet wird, das mit der Sache gar nichts zu tun hat. Wenn ich Theater spiele, geht es ums Theater, wenn ich musiziere, geht es um die Musik und wenn ich Geometrie oder Geschichte oder Grammatik bearbeite, geht es um Geometrie oder Geschichte oder Grammatik und nicht um ein von wem auch immer extern vorgegebenes Ziel. Präsenz ist das Zauberwort, denn um Präsenz geht es in jeder relevanten Begegnung, sei es mit Menschen, mit der Natur oder mit einem anderen Gegenstand der Aufmerksamkeit. Die Lehre aus Wiesbaden lautet nicht, dass alle Theater spielen sollten, sondern dass nur das Zusammenspiel von Handeln, Fühlen und Denken die Geistes-Gegenwart erzeugt, die man zum echten Lernen braucht, übrigens ein Leben lang.

»Jede Erziehung ist Selbsterziehung« lautet bis heute ein Kernsatz der Waldorfpädagogik, die sich mit 1.200 Schulen und 2.000 Kindergärten über die ganze Welt verbreitet hat. Die Konzentration auf die Lebensbedingungen und Entwicklungsbedürfnisse der Kinder vor Ort, verbunden mit einer intensiven und fortlaufenden Arbeit an der Vertiefung der Menschenerkenntnis standen bei Rudolf Steiner, Emil Molt und den Lehrerpionieren der ersten Waldorfschule Pate für die Fülle an neuen Ideen und Impulsen, die dort veranlagt wurden. Der Verzicht auf fertige Programme ermöglichte seither initiativen Eltern und Pädagog:innen in mehr als 80 Ländern unter den unterschiedlichsten kulturellen, religiösen, sozio-ökonomischen oder politischen Bedingungen, Waldorfpädagogik konkret und lebensnah umzusetzen. Die Lebendigkeit und Jugendfrische vieler Pionierschulen in Lateinamerika, Afrika oder Asien ist ein weiterer Beleg für die Bedeutung der Präsenz gegenüber ermüdenden Wiederholungen – davon können wir hierzulande einiges lernen!

Die mit der ersten Waldorfschule durchaus bewusst intendierte zivilgesellschaftliche und pädagogische Revolution wurde durch das Nazi-Regime massiv bekämpft, die Schulen entweder verboten oder sie schlossen, weil sie keine weiteren Kompromisse mehr eingehen wollten. 1949 entstand das zunächst westdeutsche Grundgesetz, das mit den Worten beginnt »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, auf die weitere neunzehn Artikel folgen, die allesamt den Schutz des Individuums vor der Willkür des Staates zum Inhalt haben. Das Schulwesen sollte von keiner staatlichen Zentralgewalt mehr kontrolliert werden können. Die Bildungshoheit und Aufsicht wurde auf die Länder übertragen und in Artikel 7 wurde das Recht zur Errichtung freier, also nichtstaatlicher Schulen verankert.

Heute haben wir sechzehn Bundesländer mit sechzehn Schulgesetzen, sechzehn Kultusministerien und unzähligen Verwaltungsbeamten. Ganze Bibliotheken von Erlassen und Verordnungen sind daraus hervorgegangen, die meisten Lehrer:innen verbeamtet, die Schule somit weiterhin staatliches Hoheitsgebiet, den Launen wechselnder Mehrheiten in den Parlamenten ausgesetzt. Mit jedem Regierungswechsel werden tiefgreifende Änderungen in der Schulpolitik der Bundesländer vorgenommen. Selbst wenn sie sinnvoll (oder jedenfalls gut gemeint) sein mögen, bleibt es bei der obrigkeitsstaatlichen Geste, die nicht wirklich konsequent auf die pädagogische Phantasie, Kompetenz und Initiative der Lehrerinnen und Lehrer vor Ort setzt, sondern Regelstandards vorgibt und vereinheitlichte Kontrollen höher wertet als Eigenverantwortung.

Nicht zuletzt deshalb haben Schulen in freier Trägerschaft in den vergangenen Jahren einen enormen Zulauf in Deutschland erfahren. Zwar spielen sie im europäischen Vergleich immer noch eine kleine Rolle, was aber nicht an mangelnder Nachfrage, sondern an den finanziellen Hürden liegt, die ihnen durch die strukturelle Unterfinanzierung seitens der Länder auferlegt werden. Da sich Chancengleichheit aber nur durch Chancenvielfalt verwirklichen lässt, ist der Wettbewerb von staatlichen und nichtstaatlichen Schulen ein Innovationsmotor, dem die Schulfinanzierung Rechnung tragen sollte: Nicht die Trägerschaft einer Schule, sondern die tatsächlichen Kosten des Schulbetriebes sind der Maßstab, um den es geht. Eine oft schon diskutierte Möglichkeit dazu wäre die Einführung einer Pauschale für jede Schüler:in, die unabhängig von der Trägerschaft an die Schule ausgezahlt wird, die sie besucht. Dann wäre ein produktiver Wettbewerb um gute Schulpraxis möglich, der sich nicht an den finanziellen Möglichkeiten eines Stadtteils oder der Eltern bemisst, sondern Schule da ermöglicht, wo Menschen Verantwortung übernehmen, gleich, ob in staatlicher oder freier Trägerschaft.

Unterricht ist ein Menschenrecht, das in der UNO-Menschenrechtscharta verankert ist. Einstmals sorgte der Staat dafür, dass es ein flächendeckendes Angebot für alle »Untertanen« gab. Was damals ein Fortschritt war, indem es die Schulbildung zum Allgemeingut machte, wird heute zum Hemmschuh: Inzwischen haben wir erkannt, dass nicht der Staat der Träger des öffentlichen Lebens ist, sondern die Bürger und Bürgerinnen. Dem Staat eignet allerdings die Aufgabe, auf Grundlage der Grund- und Menschenrechte optimale Bedingungen für die Selbstbestimmung und Selbstverwaltung der Menschen bereit zu stellen.

Freiheit im Bildungswesen bedeutet, das sei hier zur Vermeidung eines nicht ganz seltenen Missverständnisses ausdrücklich hinzugefügt, keineswegs, dass Beliebigkeit und Willkür an die Stelle staatlicher Regulierung treten. Natürlich muss der Staat darüber wachen, dass eine Bildungseinrichtung, ganz gleich, ob Kindergarten, Schule oder etwas anderes, die Rechte der Kinder schützt und sie vor Übergriffen bewahrt. Diese Rechtsaufsicht gehört zwingend zu den Aufgaben des Staates, nicht aber die Fachaufsicht oder gar Hoheit über die Lehrziele und Methoden der einzelnen Schulen. Stattdessen müssen sich die Schulen selbst organisieren, wie das beispielsweise die deutschen Waldorfschulen in ihrem Bund tun. 

Um Hannah Arendt zu zitieren: »In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen.«

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