Waldorf erklärt

Waldorf erklärt: Temperamente

Werden Kinder an Waldorfschulen quasi in Schubladen der vier Temperamente einsortiert? 

Nein! Rudolf Steiner brachte das Thema der vier Temperamenten in die Lehrer:innenausbildung mit ein. Dieser Blick auf die Persönlichkeit geht auf den griechischen Arzt Hippokrates (*460 vor Christus) zurück, nach dem eine cholerische, sanguinische, phlegmatische und melancholische Gemütslage im Menschen unterschieden werden können. Dieses Modell gilt als ein Vorläufer der modernen Psychologie und besagt, dass alle Menschen über alle vier Temperamente verfügen, die individuell in unterschiedlicher Weise gemischt sind.

Steiner hatte nicht das Ziel, diese Lehre als solche weiterzugeben, sondern die Beschäftigung der Waldorflehrer:innen mit den Temperamenten sollte zwei Aufgaben erfüllen: einerseits sollte es eine Möglichkeit sein, wie sich die Lehrkräfte selbst betrachten konnten, andererseits sollte es ein Angebot an sie sein, wie sie ihre individuelle Didaktik für das einzelne Kind gestalten konnten. Er postulierte den Satz «Jede Erziehung ist Selbsterziehung», forderte also von den Lehrer:innen das ständige innere Arbeiten an sich selbst.

Steiner wollte also, dass sich die Lehrer:innen mit der Temperamentenlehre so gut selbst kennenlernen, dass sie auf die unterschiedlichen Kinder empathisch und klug reagieren konnten, dass sie ihre eigenen Emotionen erkennen und beherrschen lernen, um dem Kind mit Interesse, statt mit der Forderung nach Gehorsam zu begegnen. Steiners Bild der menschlichen Persönlichkeit ist aber nicht auf die Temperamentenlehre allein reduzierbar. Je mehr sich die Individualität im Lauf der Entwicklung auspräge, um so mehr trete das Temperament in den Hintergrund.

Für den Unterricht regte Steiner an, Rechenaufgaben je nach der wahrgenommenen vorherrschenden Gemütslage des einzelnen Kindes unterschiedlich zu formulieren. Oder Anregungen für Erzählungen der Kinder so unterschiedlich zu gestalten, dass nicht nur die vorschnellen, spontanen und lauten Kinder von sich – etwa im Morgenkreis – erzählten. Die Fantasie der Lehrer:innen sollte angeregt werden: Wie würden sich etwa in der Fabel vom Raben und dem Fuchs die Tiere unterhalten, wäre der Fuchs ein schüchtern-aufmerksamer Melancholiker? Oder ein initiativ-zielstrebiger Choleriker?

Übertragen in heutige Pädagogik würden wir also sagen, die Pädagog:innen sollen sich selbst erkennen (Autognosie), also das eigene Verhalten, die Anlagen, die Fähigkeiten, die Einstellungen und Motivationen reflektieren und dann jedes Kind da abholen, wo es mit seinem Lerntempo, seinen Stärken und Interessen gerade steht.

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