Ausgabe 09/24

Freies Erzählen kann man lernen

Martin Niedermann
Agnes Zehnter

Die Kunst der mündlichen Erzählung ist uralt. Das Unerklärbare, das Sagenhafte, das Tief-Erlebte suchte sich den Weg über die Bilder ins Hörbare, ins Greifbare, ins Mit-Einander-Teilen und Bewegen-Können. Geschichten sind Zeugen menschlicher Entwicklung: jede Epoche unserer Kulturentwickelung hat ihre Zeugnisse, ihre überlieferten Sprachgebilde, ihre Perlen der Literatur. Durch das Erzählen können wir Dimensionen einfangen, die uns im Alltag schnell abhanden kommen, die uns nähren und uns über uns selbst hinausführen.

Erzählen heißt, Bilder entstehen lassen, Stimmungen erzeugen, einen Spannungsbogen aufbauen, in Krisen führen, unglückliche Lösungen erlebbar werden lassen und schließlich alles zur Lösung, zum freudigen oder zumindest hoffnungsvollen Abschluss zu bringen. Durch uns ereignet sich Seelisch-Geistiges, wird zum Wort, wird sinnlich erfahrbar, erhebt uns über uns hinaus. Nur wer seine Geschichte liebt, kann sie wahrhaft verschenken, tritt in die Aufmerksamkeits-Arena zwischen der Geschichte, den Zuhörenden und sich selbst, als Erzähler:in. Im besten Fall ereignet sich die Geschichte im Moment neu, wird Erzählen zur Magie, werden wir unseres Alltags enthoben, werden Schichten in unserem Inneren bewegt, die uns neue Dimensionen aufzeigen, uns zu Werdenden machen.

In jedem Menschen schlummern Fähigkeiten des Erzählens. Das Bedürfnis, andere teilhaben zu lassen an etwas, das uns belastet, das uns berührt, das uns aufwühlt, das uns fasziniert, das uns erschüttert, das uns beglückt, das uns leiden lässt, ist ur-menschlich. Etwas, das in uns geschieht, sucht den Weg nach außen, wir äußern uns, wir teilen das Erlebte, wir teilen mit. Wir suchen uns eine Person unseres Vertrauens und «schütten unser Herz aus», finden ein «wohlwollendes Ohr». «Geteiltes Leid ist halbes Leid. Geteiltes Glück ist doppeltes Glück.»

Als Kind kannten wir wohl nahezu alle die Situation, dass wir nicht wussten, was wir anfangen sollen, entweder aus Langeweile oder aus Angst und Verzweiflung. Wir stehen wie neben uns und suchen einen Ausweg, eine Lösung. Auch als Jugendliche und Erwachsene ist das «nicht wissen, was anzufangen» ein Thema: Im Liebeskummer, bei der Suche, welche Ausbildung, welches Studium ich wähle oder in dramatischen Situationen. Solche Situationen führen in Leerräume, die uns, wenn wir sie nicht zum kreativen Raum umschmelzen können, resignieren lassen, uns ohnmächtig werden lassen, und, wenn es schlimm kommt, geraten wir in Angstzustände, Depression, Suchtverhalten oder sogar in folgenschwere Taten. Mit Geschichten lassen sich die Leere, der innere Tod zum kreativen Raum umschmelzen.

Freies Erzählen


Freies Erzählen balanciert die drei wesentlichen Elemente der Geschichte, des Erzählenden und der Zuhörer:innen. Ein erfahrener Geschichtenerzähler meinte einmal: «Stell dir vor, du balancierst ein gleichseitiges Dreieck auf der Fingerspitze. Jede Ecke des Dreiecks – eine rot, eine blau, eine gelb – hat das gleiche Gewicht. Das Dreieck bleibt in Balance, wenn alle Ecken gleich schwer sind und du beweglich bleibst. Das ist Erzählen.»

Balance finden


Das «Balancefinden» scheint also besonders wichtig. Es bedeutet, nicht aus der Geschichte zu fallen und den Kontakt vom Erzählenden zu den Zuhörer:innen zu halten.
Denn genau das macht freies Erzählen aus. Um dieses Gleichgewicht zu finden, müssen die Erzählenden wach sein, um den zerbrechlichen Augenblick wahrzunehmen. Freies Erzählen sucht diesen Moment, in dem ein künstlerischer Leerraum entsteht und Publikum und Erzähler:in gemeinsam die Geschichte neu beleben und schöpfen.

Der Moment des Erzählens
 

Freies Erzählen ist immer unterschiedlich, von Auftritt zu Auftritt. Zuhörer:innen, Erzählende und Geschichten gewichten sich im Moment des Erzählens neu. Kein Publikum ist jemals dasselbe und auch die Erzählenden werden je nach Auftritt unterschiedlich gestimmt sein. Keine Geschichte wird also zweimal genau gleich erzählt.

Die Erzählkunst besteht darin, sich in diesen Akt der Balance zu stellen, ohne aus der Erzählung zu fallen. Jeder von uns bringt Stärken fürs Erzählen mit. Manche kommen sofort mit den Zuhörenden in Kontakt, andere zeigen ihre Liebe zu ihren Geschichten und wieder andere fühlen sich erst wohl, wenn sie vor Publikum stehen dürfen.

Jede:r kann erzählen


Erzählen ist ein wunderbares Erlebnis. Es entsteht, wenn die Erzählenden ihre Geschichten lieben seine Geschichte liebt und sie mit den Zuhörer:innen teilen. Denn man kann nur erzählen, womit man sich verbunden hat. Die Erzählenden leben durch die Geschichte und die Geschichten leben durch die Erzählenden. Erzählen ist ein spannender Widerspruch, ist Alltagsbanalität und Kunst in einem.

Ein:e Erzählende:r und eine Geschichte allein machen keine Erzählung aus. Damit Erzählen lebendig wird, braucht es Zuhörer:innen. Erzählen ist kein Monolog, keine Rezitation. Es ist ein Dialog, der von der Anteilnahme und Beteiligung lebt. Das Ich spricht sich im Du aus. Jeder kann sich hinstellen und drauflos erzählen, doch Erzählkunst ist ein Weg. Glücklicherweise gibt es drei Aspekte, die dabei helfen. Erstens die Bildung der Erzählenden durch das Vertiefen der Geschichten. Zweitens die Belebung der Geschichten durch das Innenleben der Erzählenden und des Publikums und schließlich die Begegnung mit dem Publikum durch die Geschichte und die eigene Offenbarung in der Geschichte.

Erzählkunst gelingt, wenn sich diese Qualitäten entwickeln. Man kann lernen, sie zu gewichten und das Gleichgewicht zu finden. Erzählen lernt man nur durch Erzählen.

Die guten Geschichtenerzählenden


Gute Erzählende sind Vermittler. Mit ihren Geschichten laden sie die Zuhörer:innen ein, ihre Begeisterung für das Fantastische, Unheimliche und Märchenhafte zu teilen. Sie wollen einen Dialog mit den Zuhörer:innen und ihre Betroffenheit, Freude, ihr Staunen weitergeben. Die Zuhörenden begegnen der Geschichte und den Erzählenden als unverwechselbare Person – gemeinsam bauen sie die unsichtbare, fiktive Welt der Geschichten.

Erzählende brauchen kein gekünsteltes Sprechen. Sie müssen verständlich sein, Spieler:innen (nicht Schauspieler:innen), die mit Geschichte, Sprache und Figuren spielen, ohne sich zu verwandeln. Sie deuten an, skizzieren und geben ihrer Geschichte und den Held:innen Sinn und Leidenschaft. Ihre Welt wird die Welt der Zuhörer:innen. Erzählen ist immer unverwechselbar, eigen und individuell.

Wenn wir mit unseren Kursteilnehmer:innen das Erzählen üben, dann haben wir eine Reihe von Punkten, die wir uns gemeinsam anschauen. Die Bewegungen der Erzählenden, Gang, Gesten und Mimik müssen mit der Geschichte übereinstimmen. Die Gesten sollten nicht übertrieben sein, sondern im Verhältnis zur Geschichte stehen. Wenn die Erzählenden sprachliche Bilder benutzen, fragen wir, ob sie die Bilder selbst erlebt haben, oder ob sie sie nachfühlen können. Wir schauen uns gemeinsam an, wie man Räume öffnen kann, in denen Geschichten zu finden sind. In den Erinnerungen der Erzählenden, in anderen Erzählungen oder von ganz weit weg? Wir fragen, wo die Geschichte erlebbar ist, im Kopf oder im Gefühl.

Tradition und Moderne


Wir lieben Geschichten aus der mündlichen Tradition, die heute Literatur sind. Sie sprechen übermenschliche, typische und bestimmende Aspekte an, die noch immer Gültigkeit haben. Märchen, Sagen und Mythen folgen einer inneren Gesetzmäßigkeit, die in Bezug auf menschliche und dramatische Aspekte noch immer zutrifft. Ihre zeitlosen Bilder lassen auch heute Raum für individuelle Erfahrungen.

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