Ausgabe 01-02/25

Für ein multiperspektivisches Weltverständnis

Niklot Krohn
Frank Steinwachs

Was ist «Zeit»? Warum und seit wann geht der Mensch aufrecht? Was versteht man unter Kultur, warum wird sie als «höher» oder «niedriger» bezeichnet und ist eine solche Kategorisierung gerechtfertigt? Für den quellenbasierten Geschichtsunterricht der Oberstufe auf dem Weg zu den Abschlussprüfungen scheint die Auseinandersetzung mit derart weitgreifenden philosophischen Fragen reiner Luxus zu sein. Die Geschichtsepoche der zehnten Klasse setzt sich hiermit aber durchaus auseinander – und intendiert damit wichtige pädagogische und gesellschaftsrelevante Ziele.

Die erste Begegnung mit den Themen des Unterrichtsfaches Geschichte findet in der fünften Klasse, zu Beginn der Mittelstufe statt. Hier sind es noch die Mythen und Sagen um die Entstehung der Erde und der Menschheit, die fesselnden Geschichten um die Pharaonen und die ersten Städte im Zweistromland, die den Blick auf unsere geschichtlichen Wurzeln und Ursprünge üben sollen. Gleichsam als eine Spiegelung wird die Ur- und Frühgeschichte des Menschen von den Anfängen bis in die Antike in der zehnten Klasse noch ein zweites Mal unterrichtet; doch warum ist das so?

Das Spiralcurriculum der Waldorfschulen: doppelt gemoppelt ist nachhaltiger


In der fünften Klasse wird Geschichte im engeren Sinne des Wortes noch als eine Erzählung des Geschehenen unterrichtet und großer Wert auf eine möglichst anschauliche Vermittlung durch die Klassenlehrer:innen gelegt, bei der das bildhafte Erleben und Erfassen der Ereignisse gegenüber dem Bewusstsein für die Art und den Ursprung der zugrunde liegenden Quellen in den Vordergrund tritt. Demgegenüber steht die Geschichtsvermittlung in der 10. Klasse ganz im Zeichen einer Auseinandersetzung mit dem Ursprung der Geschichte, ihrer Quellen und dem kritischen Umgang mit ihrem Aussagewert – insbesondere, wenn es sich dabei um materielle Hinterlassenschaften und Spuren vergangener Kulturen handelt. Auf der einen Seite können die Schüler:innen die Methoden der prähistorischen Forschung und ihrer wissenschaftlichen Teildisziplinen wie zum Beispiel die Archäologie, Anthropologie, Paläogenetik und Archäobiologie kennen lernen, die anhand dieser Quellen versucht, die menschlichen Lebensformen und Kulturentwicklungen der Vergangenheit auf vielfältige Art zu rekonstruieren. Gleichzeitig kann gelernt werden, dass diese Sachquellen nur einen kleinen Ausschnitt des ehemals Vorhandenen darstellen und die Auswertung dieser «stummen Zeugen der Vergangenheit» immer nur Hypothesen sind, die sich von Zeit zu Zeit und von Forscher:in zu Forscher:in ändern können. Nicht selten sogar liefern sie mehr Fragen als Antworten. Die Übung besteht dann darin, diese sich manchmal sogar widersprechenden Ansichten – sofern sie sachlich und fundiert argumentiert sind – berechtigt nebeneinander stehen zu lassen und damit eine gewisse Ambiguitätstoleranz und Diskursfähigkeit zu üben, insbesondere, wenn es um das Nicht-Sichtbare geht, das zu interpretieren ist.

Archäologie: was gibt die Quelle her – und was wird hineingedeutet?


Dies beginnt bereits mit den ältesten Fußabdrücken des Menschen, welche in den 1930er Jahren in der ostafrikanischen Savanne bei Laetoli in Tansania entdeckt und erst in den 1970er Jahren näher untersucht wurden. Vor etwa 3,6 Millionen Jahren gingen hier drei Personen unterschiedlicher Größe und Statur ohne Hast nebeneinander auf einem lehmigen Untergrund und hinterließen damit wertvolle Anhaltspunkte für das Alter des aufrechten Gangs. «Eine urzeitliche Familie: Vater, Mutter, Kind!», ist hier sofort das vorschnelle Urteil über den betrachteten Befund. Doch welches Geschlecht oder welches Alter diese drei Menschen überhaupt hatten, geht aus den Spuren nicht hervor, sondern entspringt nur einer von unserem modernen Denken kulturell beeinflussten Assoziation.

Eine differenziertere Quellenbetrachtung findet auch an den frühesten Schriftquellen statt und bemüht sich, die Schüler:innen zunächst einmal in ein Staunen über die Formen früher Kommunikation zu versetzen und Interesse zu wecken; sind doch die Keilschriften der Kulturen des Zweistromlandes oder die griechischen Linear-Schriften auf Tafeln aus ungebrannten Ton geschrieben worden, was keine gute Grundlage für eine dauerhafte Konservierung ist. Mit anderen Worten: Es gibt auch Schriftquellen, die nur unvollständig überliefert sind und diese stellen wiederum nur den Bruchteil des ursprünglich einmal vorhandenen, beschrifteten Schriftmaterials dar. Es kann gelernt werden, wo der Unterschied zwischen solchen Texten liegt, die scheinbar objektive Inhalte transportieren, wie zum Beispiel Steuer- und Inventarlisten, Berichte über Hochwasserstände oder solche, die mythischen, religiösen oder philosophischen sowie individuellen Ursprungs sind und damit eine erweiterte kritische Betrachtung erfordern.

Die Rekonstruktion von Geschichte bildet lediglich unser derzeitiges Wissen sowie unser gegenwärtiges Interpretations- und Urteilsverfahren – oder besser -vermögen über die Vergangenheit ab. Sie stellt damit eine Narration dar, die aufgrund der stetig wachsenden Anzahl von archäologischen Funden und Befunden immer wieder hinterfragt und durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse ergänzt oder modifiziert werden muss. Wenn das im Unterricht deutlich gemacht und erkannt werden kann, dann ist für die Herausbildung eines historischen Bewusstseins schon viel geschafft. Diese Methode hilft, den Unterschied zwischen Fiktion und Fakten erkennbar zu machen und die Sinne auch gegenüber medialer oder ideologischer Aneignung zu schärfen. Die damit verbundene Urteilsbildung stellt eine Grundlage dar, die auf ihrem nun auch inhaltlichen Weg durch die Geschichte ebenso geübt und geschärft wird – und damit sind wir mitten in der Gegenwart, und das macht Geschichte Sinn-voll.

Zeit und Menschsein als Erkenntniskategorien
 

Der Gang der Geschichte von den ersten, als Hominiden bezeichneten Menschenformen bis in die Antike ist ein Lernweg, der auch die Behandlung der Erkenntniskategorie Zeit in der objektiven physikalischen Existenz und der individuellen persönlichen Wahrnehmung in den Blick nimmt. Hier geht es um unvorstellbar lange, mitunter mehrere Millionen von Jahren zurückreichende Zeiträume, in denen der Mensch lernt, vom aufrechten Gang zur mechanischen Mobilität und von der nomadischen Lebensweise zur Sesshaftigkeit zu finden – und diese Zeiträume setzen angesichts immer schneller werdender menschlicher Innovationsprozesse ebenso in Erstaunen, wie die Tatsache, dass allein der aufrechte Gang uns erst zu all diesen Entwicklungen befähigte. «Was macht den Menschen zum Menschen?» und «Wie entwickelt sich sein Bewusstsein?» sind die daraus hervorgehende Fragen, welche mit der Beherrschung des Feuers und der Fähigkeit zur Herstellung von Hilfsmitteln aus Stein und später Metall beginnen und schließlich in den Missbrauch beider Fertigkeiten in der Waffenindustrie der Gegenwart münden. Im Kontrast hierzu steht der kreative menschliche Schaffensgeist der Kunst in ihren beeindruckenden Zeugnissen: etwa die geradezu modern anmutenden, eiszeitlichen Malereien in den berühmten Höhlen von Lascaux und Chauvet in Frankreich oder der «Löwenmensch» aus Mammut-Elfenbein aus dem Hohlenstein-Stadel im Lonetal südwestlich von Ulm sind Zeugnisse der Auseinandersetzung des prähistorischen Menschen in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu seiner Umwelt.

«Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen» und «Hochkulturen» als abwertende Begrifflichkeiten


Mit einer differenzierten Betrachtung der Menschheitsentwicklung geht auch einher, sich mit den verschiedenen Möglichkeiten des Beginns und Verlaufs von Geschichte und den altüberkommenen Bewertungskriterien menschlicher Kulturentwicklung
auseinanderzusetzen. Denn Geschichte ist nicht die kontinuierliche Entwicklung vom primitiven Faustkeil zu den Hochkulturen Mesopotamiens oder von der griechischen Polis in das europäische Mittelalter und von dort in die Kolonialisierung und Europäisierung der Welt, sondern der Blick auf unterschiedliche Lebensformen, Entwicklungsprozesse, gesellschaftliche Konzepte oder kulturelle Ausprägungen. Hier werden also Kulturen oder Kulturräume sowie deren Kommunikation und die Verbreitungswege -und räume von Kulturpraktiken, Produkten oder Technologien betrachtet, wie es der britische Archäologe Barry Cunliffe beschreibt. Ein reduzierter Fokus auf die vermeintliche Linearität kultureller und technischer Entwicklungen führt hingegen zu kulturchauvinistischen und diskriminierenden Urteilen, wie sie etwa in dem umstrittenen kulturanthropologischen Begriff der «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen» zum Ausdruck kommt, mit der zum Beispiel Menschen mit nomadischer Lebensweise in Parallelität zu sesshaften Gesellschaften etikettiert werden. Meistens wird die Fortschrittlichkeit an nur wenigen Aspekten festgemacht, wie der kürzlich verstorbene US-amerikanische Anthropologe David Graeber und der britische Prähistoriker David Wengrow in ihrem lesenswerten Buch Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit darlegen konnten. So ist der «fortschrittliche» Ackerbau im dritten Jahrtausend auf den britischen Inseln für eine lange Zeit von den sesshaften Bewohner:innen wieder aufgegeben worden und die Bedeutung populärer Fundstellen wie die agrarisch orientierten Megacities im sogenannten Zweistromland derart überbewertet, dass ähnlich große aber kulturell und gesellschaftlich vollkommen anders organisierte Gemeinschaften und urbane Zentren im Schwarzmeerraum oder in Südamerika kaum berücksichtigt wurden. Und solchermaßen sollte auch der geläufige, aber hochproblematische Begriff der Hochkultur, für die meistens urban ausgerichteten und gesellschaftlich stark hierarchisierten Gesellschaften infrage gestellt werden, die deutlich mehr Leid, Krieg und Zerstörung gebracht haben, als nomadische oder bäuerliche Kulturen.

Üben, zwischen ja und nein auch das Dazwischen zu akzeptieren


An den auswahlartig skizzierten Themenkreisen wird offenbar, dass der Geschichtsunterricht der zehnten Klasse auf bestimmte Erkenntnisprozesse abzielt, bei der aus der Betrachtung der Vergangenheit aus einer abstrakten, zeitferneren Perspektive eine Reflexion von gegenwärtigen Verhältnissen im Sinne eines differenzierten Geschichtsbewusstseins entstehen kann. Im Mittelpunkt stehen nicht die effektheischende Präsentation archäologischer Sensationen der stetig und immer schneller erscheinenden bahnbrechenden Forschungsergebnissen zu den Ursprüngen der Menschheit, ebenso wenig die langweilige Aneinanderreihung faktenbasierter ereignisgeschichtlicher Daten. Das zentrale ist das Aufgreifen der Ambivalenz des menschlichen Kultur- und Bewusstseinswandels als Gegenmodell zur zunehmend um sich greifenden, binären Verschlichtung der Meinungen. Ein (möglichst) vorurteilsfreies Verständnis für die Vielgestalt der globalen menschlichen Existenz – mithin das Rüstzeug für die Interkulturalität einer zeitgemäßen pluralistischen Gesellschaft – wird hierbei ebenso etabliert, wie die Wahrnehmung der Wechselbeziehung von Welt und Mensch, bei der Ressourcen und Akteure nicht gegeneinander, sondern zueinander in Beziehung zu setzen sind. Analog zur Aufsatzlehre im Sprach- und Literaturunterricht führt dies dann zu der Fähigkeit, ehrliche und begründete Hypothesen zu bilden und zu begründen – und als vermutetes Wissen der Gegenwart zu begreifen.

Gleichfalls stellt sich die Beschäftigung mit der Prähistorie des Menschen auch der Herausforderung, «offene Enden» der Geschichte und damit Fragen zu akzeptieren, die gegenwärtig (noch) nicht beantwortet sind oder beantwortet werden können. Und das ist zehnte Klasse: sich klar zu machen, dass Kausalitäten und Fragen, respektive das, was in der Waldorfpädagogik als «latente Fragen» bezeichnet wird, die Schüler:innen erfahrungsgemäß für den Stoff interessiert und begeistert und Teil einer Sinnbildung auch aus methodischer Sicht sein kann.

Literatur:

Barry Cunliffe: 10.000 Jahre. Geburt und Geschichte Eurasiens, Darmstadt 2016.

David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, Stuttgart 2022.

Brenda Hassett: Warum wir sesshaft wurden und uns seither bekriegen. wenn wir nicht gerade an tödlichen Krankheiten sterben, Darmstadt 2018.

James Suzman: Sie nannten es Arbeit. Eine andere Geschichte der Menschheit, München 2022.

James C. Scott: Die Mühlen der Zivilisation: Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten, Berlin 2019.

M. Michael Zech: Didaktische Überlegungen zur vertieften Behandlung von Frühgeschichte an der Waldorfschule. In: Sibyla, Thomas Voß und M. Michael Zech: Göbekli Tepe und der Prozess der Sesshaftwerdung, Kassel 2011, S. 9–21.

M. Michael Zech: Urteilsbildung im Oberstufenunterricht an den Waldorfschulen. Lehrerrundbrief Nr. 104, Februar 2016, S. 35-52.

 

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