Ausgabe 11/24

Gegen das Credo "Das funktioniert nicht!"

Anke Grohmann

Im Januar 2020 hielt ich als Klassenbetreuerin der Klasse 10b die Bewerbung von Pauline Kalkbrenner in der Hand. Sie ist stark sehbeeinträchtigt. «Nach monatelanger Suche, nach etlichen Absagen und monatelangen Zweifeln schreibe ich meine Bewerbung jetzt an die Waldorfschule, ohne das Konzept dahinter zu kennen. Ich klammere mich an jede Möglichkeit.» Für Pauline war es nach psychisch destabilisierenden Erfahrungen an Blindenschulen in Chemnitz und Marburg ein verzweifelter Versuch, an einer allgemeinbildenden Schule in ihrer Heimatstadt Dresden inklusiv unterrichtet werden zu können. Ich stellte mir die Frage, ob das für die Klasse und die Freie Waldorfschule Dresden eine Chance sein könnte. In der fragilen, sensiblen zehnten Klasse zeigten sich ein starker sozialer Zusammenhalt und eine hohe Akzeptanz von Verhaltensbesonderheiten. Für Paulines Aufnahme sprachen der Gestaltungsspielraum einer freien Schule sowie zwei Jahre mehr Zeit für den Realschulabschluss. Könnten wir einen Raum des Miteinanders eröffnen, in dem Pauline an Bildung teilhaben, Persönlichkeitsstärkung erfahren und sich mit ihren Talenten einbringen kann?

Das können wir nicht leisten!
 

Die Eltern, Pauline, eine Kollegin aus dem Förderbereich und ich trafen uns im Februar 2020 zum Kennenlernen in der Schule. Die Leiterin des Kompetenz- und Medienzentrums der Landesschule für Blinde und Sehbehinderte Chemnitz Marie Böttcher erklärte uns, welche barrierefreien Unterrichtsmaterialien und Hilfsmittel wir als Lehrkräftekollegium gewährleisten müssten. Mein Kopf konnte die Fülle an neuem Fachvokabular kaum fassen. Wir vereinbarten eine zweiwöchige Probezeit. Von den Eltern verabschiedete ich mich mit den Worten, dass dies ein Experiment sei. Die Kollegin meinte im Davongehen zu mir: «Das können wir nicht leisten!» Pauline war im März 2020 zwei Tage da, dann schlossen sich coronabedingt die Schultüren für alle. Als Schule versuchten wir den Unterricht online zu organisieren. Ich vermittelte Pauline den Kontakt zur Schulsozialarbeiterin Ulrike Giese und verlängerte die Probezeit bis Juni. Das Klassenkollegium entschied sich mehrheitlich gegen die Aufnahme der Schülerin. Das sei mit all den pandemiebedingten Einschränkungen nicht auch noch zu schaffen. Traurig übermittelte ich Pauline, ihrer Schulassistentin, ihren Eltern und auch der Klasse die Nachricht, dass das Kollegium sich gegen eine Aufnahme entschieden hat.

Und was, wenn doch?
 

Daraufhin schrieben die Mitschüler:innen 20 Briefe an das Klassenkollegium und hinterfragten diese Entscheidung. Pauline selbst schrieb ebenfalls einen Brief, in dem sie ihren Standpunkt erläuterte und erneut ihre Lage darstellte. «Daraufhin bekam ich eine Chance, in der nächsten Oberstufenkonferenz alles zu erklären – vor allen Lehrern, da zitterten mir die Knie», erzählt Pauline. Die Mitschüler:innen boten ihre Hilfe bei der Materialbeschaffung und -umwandlung an. Pauline durfte bleiben. «Mir war es von Anfang an wichtig, nicht besonders behandelt zu werden», sagt Pauline heute. «Ich wollte einfach dazu gehören wie alle anderen auch. Anfangs war ich sehr nervös, neu auf der Schule und dann noch mit Menschen ohne eine Beeinträchtigung. Ich hatte Angst, wie sie auf mich reagieren. An sich wurde ich gut aufgenommen, alle waren freundlich. Aber für mich war es eine riesige Umstellung und Überforderung. Ich war bisher nur in Klassen mit höchstens acht Personen gewesen, jetzt waren wir ungefähr 30. Es war schwer für mich, Freundschaften zu knüpfen, einfach weil ich nicht wusste, wie ich das machen sollte.» Das Sozialpraktikum zu Beginn der elften Klasse absolvierte Pauline im Lloyd’s Café & Bar, das Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung bereithält. Ich besuchte sie, ließ mich erstaunt von ihr platzieren, bedienen und abkassieren und tauschte mich kurz mit ihrem Betreuer Petr Wolf aus, der mir später erzählte, er dachte anfangs, das wird nichts. Schnell war klar, dass Pauline nicht an Eurythmie teilnehmen würde. «Ich musste auf die Musik achten, auf die Schritte, auf mich selbst und auch noch darauf, nicht gegen meine Mitmenschen zu laufen. Das war nicht umsetzbar und okay für mich», so Pauline. Es folgten Beratungsgespräche und Hospitationen mit Marie Böttcher. Ich lernte Förderpläne schreiben. Wir Kolleg:innen sollten ein gleichberechtigtes Lernen ermöglichen. Pauline sagt dazu heute: «Dem einen Lehrer gelang es mehr und besser, anderen weniger. Das ist verständlich, da jedes Fach anders und das eine barrierefreier ist als das andere. Es gab Tage, da war meine Unterrichtassistentin sehr wichtig für mich. Es gab Tage, die besser liefen, aber auch Tage, an denen ich weinend und verzweifelt auf dem Flur saß, da ich das Gefühl hatte, für viele eine Belastung zu sein. Denn natürlich ist es mehr Aufwand, den Unterricht so zu gestalten, dass ich gut mitkomme, sowohl für die Lehrer als auch für mich selbst.»

Das lernende Kollegium
 

Wir Kolleg:innen lernten die im Unterricht eingesetzten Abbildungen und Bilder für Pauline zu versprachlichen oder Hilfsmittel einzusetzen. Fühlbare Punktschriftdrucke mussten für mehrfach zu lesende Texte wie Gedichte oder Chorlieder angefertigt werden. Das geschah in der 153. Grundschule in Dresden, deren Name ein Überbleibsel aus der DDR ist, wo Schulen standardmäßig durchnummeriert wurden. Dort werden seit 2018 Kinder mit Sehbehinderung in Dresden unterrichtet. Ich realisierte den Qualifizierungsbedarf in unserem Kollegium, um Arbeitsblätter in digitale, barrierefrei lesbare Word-Dokumente zu verwandeln. So benötigte Pauline zum Beispiel sämtliches Unterrichtsmaterial in einem bestimmten digitalen Format, sodass es mit Hilfe der Braillezeile für sie dekodiert werden konnte. Für meine Kollegin im Fach Geschichte übernahm ich das Abtippen der Arbeitsblätter. Das war ein enormer zusätzlicher Aufwand und nicht für weitere Fächer zu leisten. Außerdem mussten die Abschriften gewissen Adaptionsstandards genügen und mit Formatvorlagen geschrieben werden. Dieses Procedere aber musste ich mir erst in der Blindenschule in Chemnitz aneignen. Später gelang es, eine Studentin gegen Bezahlung Texte und Altprüfungen für Trainingszwecke adaptieren zu lassen. Die Mathematikkollegin Kornelia Renner ließ die Klasse zu Beginn der Stunde eine räumliche Vorstellungsübung mit einem Würfel machen. Pauline brachte sich einen Würfel mit, wodurch ihr diese Übung recht gut gelang. Renner wurde wie andere Kolleg:innen sprachsensibler, langsamer im Erklären und sie wiederholte öfter. Beim Umformatieren von Arbeitsblättern in digitale Word-Dokumente durchdachte sie diese noch einmal, was der ganzen Klasse zugutekam. Es musste im Unterricht zudem leise sein, damit Pauline den Erklärungen folgen konnte. In der Epoche Analytische Geometrie sollten einzelnen Funktionsgleichungen jeweils Kurven eindeutig zugeordnet und in ein Koordinatensystem als Bild gezeichnet werden. Pauline nutzte dafür ein Geobrett und brauchte dafür das Dreifache an Zeit. Im Physikunterricht profitierte Pauline von Podcasts. In Musik fiel ihre Erlebnissensibilität auf.

Empowerment
 

Den Handwerkskollegen Rüdiger Wünsche erstaunte, dass Pauline beim Schmieden besser traf als manche Mitschüler:innen. Es wurde ihr Lieblingsfach. «Ich habe großen Respekt vor Feuer, da ich es nicht sehe und dadurch schon oft Verletzungen hatte», berichtet Pauline. «Schade war nur, dass ich das Eisen auf dem Amboss nicht sehen konnte, da der Kontrast nicht stark genug war, aber mit präzisen Hinweisen von meiner Schulassistentin Lisa war es gut machbar.» In dem von mir unterrichteten Kurs Malen setzten die Jugendlichen abstrakt den Winter und den Frühling nach der Musik von Vivaldi um. Lisa mischte die Farben nach Paulines Anweisungen und half ihr beim Malen im Rhythmus der Musik. Die Mitschüler:innen beschrieben anschließend die wahrnehmbaren Ausdrucksqualitäten, besonders ausführlich bei Paulines Werken. Sie willigte ein, einen Vortrag über den sehbehinderten Galeristen Johann König zu halten. Pauline brachte Tücher mit und bat uns, die Augen damit zu verbinden. Pauline berichtet: «Die Resonanz danach war unglaublich; sie erzählten mir nach dem Vortrag, wie sie diesen wahrgenommen hatten und worauf man sich mit den Ohren konzentriert, wenn man nichts sehen kann – zum Beispiel stärker auf den Inhalt des Gehörten, auf den Klang der Stimme und die dadurch entfachte Vorstellungswelt.» Wir waren aufgefordert, das von ihr gezeichnete, tastbare Reliefbild zu erraten. Den wenigsten gelang es, sich das Porträt von Johann König so zu erschließen. Den Fahrradausflug während der Musikgeschichts-Epoche in das Richard-Wagner-Museum Graupa machten Nathanael und Pauline auf einem Tandem. Die Jahresarbeit schrieb Pauline über Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung. Sie reflektierte ihren hohen Anspruch an gesellschaftliche Veränderungen zugunsten von Inklusion und kam zu dem Schluss, dass es mehr Aufklärung und mehr Begegnungsmöglichkeiten braucht, um Stereotype, negative Vorstellungen und Unsicherheiten im Umgang mit Menschen mit Behinderung verschwinden zu lassen. Pauline stellte ihr Thema wie alle anderen dem öffentlichen Publikum vor, mit berührend persönlichen Bezügen. Sie bat das Publikum, sich bei Fragen durch Klatschen bemerkbar zu machen. Am interaktiv gestalteten Messestand konnten sich Besucher:innen in einem Vorurteile-Memory erproben. Als Fachmentorin einer Schülerin der achten Klasse erklärte Pauline ihr die Brailleschrift. «Das war eines der schönsten Erlebnisse, da ich wusste, dass sie etwas fürs Leben gelernt hatte und ich die Barrieren, in zumindest einem weiteren Kopf, ein wenig reduzieren konnte», so Pauline. Im Kunstkurs der zwölften Jahrgangsstufe entschied sich Pauline zum Thema Selbstdarstellung etwas zu häkeln. Diese eigenständige und konzeptionelle Auseinandersetzung mit ihrem Selbst hatte ein sehr originelles Ergebnis, ein gehäkeltes Mischwesen, das sie  erkenntnisreich und schonungslos offen reflektiert  vor der staunenden Klasse präsentierte. Das Klassenspiel Der zerbrochene Krug von Heinrich von Kleist forderte sie aufgrund der Geräuschkulisse und der erforderlichen Konzentration während der Proben und des Auftritts heraus. In der kleinen Rolle des Gerichtsdieners überzeugte sie das Publikum.

Starke Gemeinschaft machtʼs möglich
 

Am Ende der zwölften Klasse absolvierte Pauline die Prüfungen für den Realschulabschluss mit sehr guten und guten Ergebnissen. Anfangs hatte ich nur eine Ahnung, dass das gelingen könnte – denn uns begegnete ja oft das Leitmotiv Das wird nichts! Und doch fügte sich alles: Pauline, die Schulassistentin Lisa, die Klasse und das Kollegium konnten diese Zeit gemeinsam gestalten, unterstützt von weiteren Menschen im Hintergrund der Schulgemeinschaft wie der Geschäftsführung. «Abschließend bin ich froh, dass ich die Freie Waldorfschule Dresden besuchen konnte und meinen Realschulabschluss in der Tasche habe.»

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