«Warum willst du denn nach Brasilien?», fragt mich mein Vater, völlig überrascht. «Gute Frage», antworte ich. «Ich weiß nicht. Ich will gerne ins Ausland. Ich will was erleben, eine neue Sprache lernen. Es ist einfach so ein Gefühl von ‚ich will weg hier und etwas komplett anderes erleben‘.» Also suche ich im Internet nach internationalen Freiwilligendiensten. Was ich finde: Monte Azul Musikschule. Ich spiele Geige, seit ich vier Jahre alt bin, also scheint das ja zu passen. Meine Mama ist begeistert, als ich ihr die Website schicke. «Ja, mach das, Sophia. Das sieht gut aus», sagt sie.
Aber wie es ist, weiß ich nicht und kann ich gar nicht wissen. Ich schreibe meine Bewerbung und bekomme nach einiger Zeit eine E-Mail von Vanusa, meiner zukünftigen Betreuerin, «Zusage für einen Freiwilligendienst in Monte Azul». Monte Azul ist eine soziale Einrichtung mit Sitzen in den Armutsvierteln von São Paulo. Glücklich lese ich die E-Mail. Damit steht der Entschluss fest: Ich gehe nach Brasilien.
Die Visumanträge, Seminare und andere Vorbereitungen gehen los. Es ist so viel zu tun, dass ich fast gar keine Zeit habe, aufgeregt zu sein. Das Brasilien-Seminar zur Vorbereitung gibt mir ein bisschen mehr Klarheit, was mich dort erwarten wird. Wir sprechen über viele Vorurteile, Gefahren, empfohlene Verhaltensweisen. Die Aufregung steigt immer weiter. Wenn Leute mich fragen, «was wirst du denn da machen?», kann ich nur sagen: «Weiß ich nicht so genau. Ich werde in einer Musikschule arbeiten, Geige spielen und den Rest werde ich sehen. Wo ich genau wohne, weiß ich auch nicht.» Kurz vor der Abreise fällt mir auf: «Mist - ich kann ja gar kein Portugiesisch!» Die letzten Tage in Deutschland nutze ich also, Portugiesich zu lernen. Nach dem emotionalen Abschied von meiner Mama in Frankfurt sitze ich im Flugzeug, immer noch panisch am Lernen von Portugiesisch-Vokabeln. Am Flughafen Guarulhos in São Paulo komme ich früh morgens an. Zum Glück entdecke ich direkt eine andere Freiwillige, die mich abholt. Im Taxi bin ich sehr beeindruckt von ihren Sprachkenntnissen, weil sie sich völlig entspannt mit dem Fahrer unterhält. Ich verstehe nichts außer «Obrigada» (Danke). Ich traue mich kaum etwas zu sagen und merke, das kann schwierig werden.
Wir fahren durch die graue Stadt an diesem nebligen Morgen. Jedes Detail ist irgendwie interessant und neu. Besonders fallen mir die unendlichen Hochhäuser und Wolkenkratzer auf. Alles ist voller Graffiti. Zusammen mit dem Fahrer halten wir an einem Straßenstand an, um zu frühstücken. Ich esse das erste Mal Paçoca, eine Art komisches Konfekt aus gemahlenen Erdnüssen und Rohrzucker. Ich bin begeistert von dieser ersten Mahlzeit, weil sich allein das wie ein Abenteuer anfühlt. Wir fahren durch die gigantische Stadt. Je näher wir dem Ziel kommen, desto aufgeregter bin ich.
Völlig übermüdet komme ich im Süden von São Paulo in einem Wohngebiet an meinem neuen Zuhause an und steige aus. Eine winzige Frau, meine Gastmutter, steht vor der Tür und begrüßt mich. Ich schleppe meinen Koffer rein und sie zeigt mir das Haus. Es ist sehr schön hell mit Innenhof und drei Etagen. Das Wohnzimmer ist offen und hell, mit schöner Aussicht. In dem Haus wohnen viele andere Menschen. Unten wohnt die Gastmutter mit ihrem Mann, in der Mitte ich und oben einige Brasilianer im Alter von 18 bis 40, die im Zentrum arbeiten oder studieren. Das Haus ist im ersten Moment sehr unübersichtlich. Meine Gastmutter führt mich durch das Haus und erklärt mir alles. Meine geringen Portugiesisch-Kenntnisse sind schnell aufgebraucht. Ich klammere mich an den wenigen Formulierungen fest, die ich kenne - «Ich brauche Wasser», «Wie alt bist du?», «Wie heißt du?». Ich räume meinen Koffer aus, putze das Wohnzimmer, wundere mich über die Dusche in der Küche und finde alle möglichen Dinge von ehemaligen Freiwilligen. Die Gastmutter nimmt mich um 12 Uhr zum Centro Cultural zum Mittagessen mit. Dort treffe ich meine Betreuerin zum ersten Mal. Es fühlt sich unreal an, weil ich diesen Ort im Voraus schon so oft auf Fotos gesehen habe. Und jetzt bin ich wirklich da und esse das erste Mal Arroz e Feijão, Reis mit Bohnen. «Was habe ich mir nur dabei gedacht, nach Brasilien zu kommen, ohne Portugiesisch zu sprechen?» Es ist verrückt. Die erste Zeit fühle ich mich wie ein Geist. Ich bin bei Gesprächen anwesend, kann aber nichts sagen oder verstehen. Portugiesisch ist für mich wie eine Geheimsprache. Ich bin super frustriert und enttäuscht. Am zweiten Tag ist schon mein erster Integração, eine Art monatlicher Mitarbeitertag. Alle Mitarbeiter:innen von Monte Azul kommen zusammen, hören sich Vorträge an und treffen sich in Workshops. Besonders viel verstehe ich nicht. Aber die Stimmung ist gut und ich merke, ich bin am richtigen Ort angekommen. Beim Integração mache ich bei dem Geigen-Kurs mit und lerne damit meine zukünftige Chefin Tammy kennen, die Geige in Monte Azul unterrichtet. Ich fühle mich noch überfordert. Aber zu meiner eigenen Überraschung fühle ich mich nie unsicher oder fehl am Platz. Eines der Dinge, die mir sehr stark auffallen, ist der Lärm in der Stadt. Wir versuchen, uns auf die klassische Musik und die richtigen Noten zu konzentrieren, während es draußen teilweise unglaublich laut ist. Auch bei den Proben des Jugendorchesters, der Camerâta, macht der Nachbar in einer maximalen Lautstärke Musik an. An Tagen von wichtigen Fußballspielen kommen noch Böller und Feuerwerk hinzu. Ich unterhalte mich viel mit den Leuten, um das Umfeld besser zu verstehen. «Die Musikschule hat viel Potenzial», sagt ein Geigenlehrer. «Mehr Potenzial als die Leute denken.» Und er hat wahrscheinlich Recht. Die ehemaligen Schüler:innen spielen teilweise so gut, dass sie Musik studieren könnten. Jedoch nur wenige verfolgen eine Karriere in der Musik. Darum geht es laut ihm auch nicht. Es gehe darum, den Kindern etwas mitzugeben, eine Gemeinschaft zu bilden, die Jugendlichen zu beschäftigen. Die Musik sei nur der Kanal dafür. Wenn die Kinder 15 Jahre alt sind, verlassen sie die Musikschule und gehen ins echte Leben. Und da geht es darum, Geld zu verdienen. Und die Musik geht verloren. Aber viele kehren zurück zur Musikschule nach einiger Zeit. Ehemalige Schüler:innen spielen im Orchester, werden wie die beiden Assistent:innen zu Lehrer:innen oder helfen bei bestimmten Events. Fast alle blicken positiv auf ihre Zeit in der Musikschule zurück. Besondere Highlights waren für mich auf jeden Fall Konzerte und Ausflüge. Für die Kinder und genauso für mich ist es immer toll gewesen, das gewohnte Umfeld zu verlassen und an anderen Orten aufzutreten. Das Feedback der Zuschauer:innen ist immer eine schöne Bestätigung und dadurch merkt man erst, wie besonders diese Arbeit überhaupt ist. Kostenloser, täglicher, qualitativer Musikunterricht für über 40 Schüler:innen in einem Armutsviertel ist ein Privileg. Ich bin dankbar, dass ich Teil dieses Projekts sein durfte. Ich habe natürlich auch viele andere Sachen in São Paulo erlebt. Ich habe die Tänze Forró und Sertanejo gelernt, viel Kultur in Form von Theater und Kunst und Street Art gesehen. Auch durfte ich durch Kontakte selber Street Art mit befreundeten Künstler:innen machen.
Ich hatte die Möglichkeit, das Land zu bereisen, und war in Rio de Janeiro, Bahia und Espirito Santo. Ich war bei Fußballspielen, Festen, Konzerten, Rap Battles, Familienfeiern, vielen Klassik-Konzerten. Ich war an tropischen Ständen, Wasserfällen und in den Metropolen des Landes. Es ist unmöglich, Brasilien zu beschreiben, weil es so vielfältig ist. Die typische brasilianische Kultur gibt es definitiv nicht. Ich habe so viele verschiedene Leute kennengelernt wie in meinem ganzen Leben bisher nicht. Viele reiche Menschen, arme Menschen und allerlei beeindruckender Lebensgeschichten. Ich war beeindruckt von der Energie der Menschen, Vollzeit zu arbeiten und nebenbei zu studieren. Es ist unmöglich, alles zu beschreiben, was ich erleben durfte. Ich habe definitiv ein neues Selbstvertrauen und Kraft in mir gefunden. Ich habe gelernt, mich auf mich selbst zu verlassen. Ich weiß, dass, egal wo ich hingehe, ich habe mich und meine Talente und Stärken genauso wie meine Schwächen immer bei mir. Ich bin froh, hier meinen Platz gefunden zu haben. Es bricht mir das Herz, jetzt zu gehen und all das hinter mir zu lassen. Am liebsten würde ich alles nochmal von vorne machen. Portugiesisch habe ich flüssig sprechen gelernt und will dies auf keinen Fall verlernen und am liebsten noch mehr vom Land und dem Kontinent sehen. Ich komme auf jeden Fall wieder! ‹›
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