Rudolf Steiner war seiner Zeit in vielerlei Hinsicht voraus. 1894 schrieb er in seiner Philosophie der Freiheit zum Miteinander der Geschlechter und insbesondere zur Lage der Frau: «Die soziale Stellung der Frau ist zumeist deshalb eine so unwürdige, weil sie nicht bedingt ist durch die individuellen Eigentümlichkeiten der einzelnen Frau, sondern durch die allgemeinen Vorstellungen, die man sich von der natürlichen Aufgabe und den Bedürfnissen des Weibes macht.» Die Betätigung des Mannes dagegen richte sich nach dessen individuellen Fähigkeiten und Neigungen. Steiner bemerkte weiter, dass, solange von Männern darüber debattiert würde, für welchen Beruf die Frau aufgrund «ihrer Naturanlage» geeignet oder nicht geeignet sei, die «sogenannte Frauenfrage aus ihrem elementarsten Stadium nicht herauskommen» könne. «Was die Frau ihrer Natur nach wollen kann, das überlasse man der Frau zu beurteilen.»
Steiners engste Wegbegleiterinnen und prägende Charaktere der anthroposophischen Bewegung waren Frauen. Die erste 1919 gegründete Waldorfschule stand sowohl Mädchen als auch Jungen offen. Sie wurden gemeinsam unterrichtet und lernten gleichermaßen Schreinern, Stricken und Schnitzen. Der erste Waldorflehrplan wurde von einer Frau zusammengestellt, nämlich von Caroline von Heydebrand. Dessen Ziel war es, das Individuum aller Schüler:innen zur Entfaltung zu bringen. Die Waldorfbewegung entspringt also einer Weltanschauung, die ein gleichwertiges Verhältnis der Geschlechter im Sinn hat und den Menschen als Individuum begreift. Angesichts dieser fortschrittlichen Einstellung sollte man annehmen, dass Geschlechtergerechtigkeit im Waldorfbereich besonders fortschrittlich gelebt wird. Oder?
Emilia Maier (18), Helene-Marie Nagel (18) und Lea Guthmann (18), drei Schülerinnen der Freien Waldorfschule Augsburg, haben sich in einem Forschungsprojekt im Rahmen des EU-Programms Erasmus+ 2023/24 genau diese Frage gestellt und wollten sie mithilfe einer statistischen Auswertung und Befragung beantworten. In einer kleinen Studie nahmen sie die Situation an der eigenen Schule unter die Lupe. Für den Zeitraum 1992 bis 2022 errechneten sie den Anteil von Frauen im Kollegium sowie in den Schulführungsgremien, das heißt dem Vorstand und dem Verwaltungsrat. Hierzu verwendeten sie alte Übersichten, auf denen ehemalige Lehrer:innen gelistet waren, und den sogenannten Wegweiser, der die organisatorische Struktur der FWS Augsburg abbildet. Außerdem machten die Schülerinnen eine
Onlineumfrage innerhalb des Kollegiums. Den Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) baten sie ebenfalls um Interviewpartner:innen.
Frauenanteil an der FWS Augsburg
Die Untersuchung der drei Schülerinnen für die FWS Augsburg ergab: Zwischen 1992 und 2022 betrug der generelle Frauenanteil am Kollegium stets etwa 62 bis 75 Prozent. Der Anteil männlicher Lehrer lag damit immer deutlich niedriger und erreichte lediglich im Schuljahr 1996/97 einen Peak von rund 38 Prozent. Dieses Ergebnis deckt sich mit Zahlen des Statistischen Bundesamts. Demnach sind Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland überwiegend weiblich. Im Schuljahr 2021/2022 lag der Anteil weiblicher Lehrkräfte allgemein bei rund 73 Prozent. Während in Grundschulen fast nur Frauen lehren (knapp 90 Prozent), ist das Verhältnis der Geschlechter unter den Lehrpersonen in Gymnasien fast ausgeglichen (rund 60 Prozent Lehrerinnen). Der Knackpunkt in der Genderfrage ist auch im Bereich Schule das Thema Leitung. Trotz des hohen Anteils an Frauen im allgemeinen Lehrbetrieb sind laut einer Erhebung des Deutschen Schulportals nur 54 Prozent der Schulleitungen weiblich besetzt.
Zurück zur FWS Augsburg. Hier bestand der zu Beginn der Datenerhebung dreiköpfige Verwaltungsrat zunächst zu 100 Prozent aus Männern. Wichtige Entscheidungen wurden jedoch nach Recherchen der Schülerinnen überwiegend von der Schulführungskonferenz getroffen, an welcher alle festangestellten Kolleg:innen teilnehmen konnten. Seit dem Schuljahr 1995/96 waren dann auch Frauen im Verwaltungsrat vertreten. Deren Anteil nahm bis zur Jahrtausendwende kontinuierlich zu und pendelte sich dann auf 50 bis 75 Prozent ein. Im Schuljahr 2009/10 erfuhr die Schulführung eine Umstrukturierung. Die Schulführungskonferenz wurde abgeschafft und der Verwaltungsrat ergänzt durch zwei weitere Schulführungsgremien: das Mitarbeitendengremium und das Entwicklungsgremium. Infolgedessen sind seither deutlich mehr Führungspositionen zu besetzen und der Frauenanteil hier spiegelt nun weitgestehend den weiblichen Anteil des gesamten Kollegiums wider, so der Befund.
Um herauszufinden, wie das Thema Geschlechtergerechtigkeit innerhalb des Kollegiums der FWS Augsburg wahrgenommen wird, befragten die Schülerinnen 29 Lehrer:innen in einer Online-Umfrage. 20 weibliche und 8 männliche Lehrkräfte nahmen an der Befragung teil sowie eine diverse Person. Knapp die Hälfte der Befragten gab an, schon mal eine Führungsposition innegehabt zu haben. Rund 86 Prozent konnten sich vorstellen, zukünftig eine leitende Rolle einzunehmen, nur rund 14 Prozent schlossen dies für sich aus. Auf die Frage, warum auch im Waldorfbereich Männer in Führungspositionen dominierten, verwiesen die Befragten auf die allgemeingesellschaftliche Realität und die immer noch verankerten Rollenbilder. Ebenso fragten die Schülerinnen nach Gründen, warum die Befragten selbst noch nicht in einer Führungsposition waren. Die Antworten: Zeitmangel, Kinder oder bislang noch zu geringe Erfahrungen im Schulbetrieb.
Geschlechtergerechtigkeit beim BdFWS
Wie steht es um die Geschlechtergerechtigkeit bei den Mitarbeitenden beim BdFWS? Auch dieser Frage sind Emilia, Helene und Lea nachgegangen. Ein Blick auf die Website zeigt: Der BdFWS wird aktuell von drei männlichen Geschäftsführern sowie einem Vorstand, bestehend aus vier weiblichen und drei männlichen Verantwortlichen, geleitet. Die Schülerinnen sprachen für ihr Projekt mit zwei Männern und drei Frauen in leitender Funktion. Letztere gaben an, erst seit wenigen Jahren beim BdFWS beschäftigt zu sein, während die befragten Männer schon lange dort tätig sind. Von den Befragten hatten alle bis auf eine Mitarbeiterin Kinder.
Auf die Frage, wie es um die Rolle der Frau im BdFWS bestellt sei, gingen die Meinungen auseinander. Einer der Männer sowie zwei Frauen befanden, dass Frauen und Männer beim Bund absolut gleichberechtigt seien und es keinerlei Diskriminierungserfahrungen gäbe. Eine Mitarbeiterin bemängelte jedoch, dass bei Veranstaltungen hauptsächlich Männer als Referenten eingeladen würden und Frauen erst sehr spät oder überhaupt nicht in Betracht kämen. Der zweite männliche Befragte sah noch keine Ausgewogenheit und verwies dabei auf die ausschließlich männerdominierte Geschäftsführung. Eine weitere Mitarbeiterin sah die Waldorfbewegung in Bezug auf Entscheidungsgremien noch fest im Griff des Patriarchats und wünschte sich hier mehr Frauen, die doch im Wesentlichen Gestalterinnen der Schule seien.
Was ist nun zu tun, um hier für mehr Ausgewogenheit zu sorgen? Die Befragten waren sich einig: Beim Bund müssten sich die Arbeitsbedingungen insbesondere für Mütter mit kleineren Kindern verbessern. Ein Punkt stieß unter den Befragten auch auf allgemeine Zustimmung: Unter den Waldorffamilien leiste noch immer überwiegend die Frau die Care-Arbeit und würde sich darum erst gar nicht um eine leitende Position bewerben. Die «großen alten Persönlichkeiten» der Waldorfpädagogik, insbesondere im Raum Stuttgart, seien Männer gewesen, denen die Frauen den Rücken freihielten. Ein Umdenken sei da dringend erforderlich.
Fazit
Die Untersuchung zeigt: Zwar sind weibliche Lehrkräfte an der Waldorfschule Augsburg in der Mehrheit, diese spiegelt sich aber nicht durchgängig in den Schulführungsgremien wider. Auch im BdFWS sehen die Schülerinnen das traditionelle Rollenbild noch nicht überwunden – auch wenn das Problem weitgehend erkannt und bearbeitet werde. Neben Zahlen offenbart die Befragung die Notwendigkeit, auch im Waldorfbereich Rahmenbedingungen zu schaffen, um allen Beteiligten eine Entfaltung der eigenen Potenziale zu ermöglichen.
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