«Mein Auftrag ist, den Schüler:innen die Bildungsinhalte aus dem Lehrplan beizubringen. Dafür spielt das Geschlecht keine Rolle, außerdem geht es in der Schule niemanden was an, wer welche geschlechtliche Identität und Präferenz hat. Jede:r darf sein, wie dey will und in den schriftlichen Beurteilungen gibt es ohnehin keine Personalpronomen mehr.» sagt die Berliner Lehrerin einer Regelschule, die so diverse Kolleg:innen und Schüler:innen hat, dass sie es nicht für notwendig hält, das Thema in den Unterricht zu integrieren. Ist eh Standard.
Soweit die pragmatische Haltung. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass diese Haltung eben nicht überall Standard ist und es selbst an Schulen, die sich für offen und diversitätsfreundlich halten, noch Entwicklungsbedarf gibt.
Schauen wir uns ein paar Zitate aus einem Waldorfkollegium an, um die Bandbreite an Haltungen aufzuzeigen: «Ich werde in meiner Rede nur die männliche Form benutzen, um den Sprachfluss nicht zu unterbrechen.» – «Mir geht die gegenderte Sprache noch nicht über die Lippen, ich benutze weiterhin die männliche und weibliche Form.» – «Ich achte überhaupt nicht auf das Geschlecht, ich sehe nur die Kinder.» – «Die Jungs raufen mal wieder auf dem Schulhof und die Mädchen werden immer zickiger.»
Dass eine Schulgemeinschaft immer wacher für das Thema Geschlechtervielfalt wird, zeigt sich andererseits, wenn bei der Einschulung auf der Bühne nur von Schülern und deren Paten gesprochen wird und darüber nachträglich kritisch reflektiert wird. Wenn auf Schulversammlungen sukzessive immer mehr Menschen in ihren Wortbeiträgen gendern. Wenn in der schriftlichen öffentlichen Kommunikation seit Jahren so konsequent das Sternchen oder der Doppelpunkt eingesetzt wird, dass es zum Standard der Schule wird. Oder die eigene, noch gar nicht so alte ungegenderte Masterarbeit plötzlich Scham hervorruft.
Neue Selbstverständlichkeit herstellen
Drei Jahre lang habe ich mit einer Kollegin im Team unterrichtet, wir hatten von Beginn an die Absicht, unsere Schüler:innen gendersensibel zu unterrichten, und zwar in jeder Epoche und ganz selbstverständlich. Seit der fünften Klasse hieß es nicht mehr «Guten Morgen liebe Kinder!» sondern eben «Guten Morgen liebe Schüler:innen!». Was sich zunächst noch fremd anfühlte, wurde in den nächsten Monaten zur Gewohnheit und behinderte den Sprachfluss überhaupt nicht. Sagte jemand: «Aber diese Pause mitten im Wort ist doch total künstlich» antwortete ich: «Wie sprichst du das Wort Spiegelei aus?» Der Glottischlag ist in unserer Sprache schon immer usus gewesen und hat jetzt eben eine zusätzliche Verwendung gefunden.
In diesen drei Jahren sammelten wir Vorkommnisse, die unser Bestreben widerspiegelten. So kamen eines Tages fast alle Kinder der fünften Klasse in vertauschten Geschlechterrollen zur Schule. Sie hatten sich am Vortag ohne unser Wissen dazu verabredet und vor allem die Jungen hatten großen Spaß daran, sich zu schminken oder ein Tutu über der Jeans zu tragen. Auch die Tafeltexte waren immer wieder ein Anstoß zur Diskussion: «Muss ich die gegenderte Form abschreiben? Ohne ist es viel kürzer und geht schneller.» Am wichtigsten war uns jedoch das Einbinden von Geschlechterrollen in die Unterrichtsinhalte. So versuchten wir, in der nordischen Mythologie die Frauenfiguren stark und positiv darzustellen. In den Geschichtsepochen hoben wir die emanzipierte Stellung der Frau im antiken Ägypten hervor, erörterten mit den Kindern, welches Verhältnis Gilgamesch zu Enkidu hatte, erzählten von der lebenslangen Liebe zwischen Achill und Patroklos, streiften vorsichtig das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern im alten Rom und sprachen über die Rolle der Frau im Mittelalter. Auch wenn die Heteronormativität damit aufgelöst wurde, befanden wir uns damit doch noch im binären Denken. Männer und Frauen der Geschichte hatten vielleicht eine nicht-normierte sexuelle Orientierung, dennoch waren es immer noch zwei Geschlechter. Trotz unseres Bewusstseins für die Vielfalt von Geschlechtlichkeit, Identität und Rollenverhalten sprachen die Schüler:innen immer wieder von «den Jungs» und «den Mädchen», besonders in Konfliktsituationen. Wobei damit immer nur die Kinder gemeint waren, die sich anscheinend geschlechtstypisch verhielten. Das wollten wir in der Beziehungskunde-Epoche gegen Ende der sechsten Klasse ändern.
Pro und Contra
Es gab auch Kolleg:innen, die meinten, wir würden es übertreiben und mit unserem Fokus den Graben zwischen den beiden Geschlechtern noch vertiefen. Das Thema Geschlechtlichkeit würde kaum eine Rolle spielen, wenn man es wie beiläufig behandeln würde. Schließlich würden an der Waldorfschule alle Kinder gemeinsam Handarbeit und Werken haben und vornehmlich in ihrer (geschlechtsunabhängigen) Individualität gesehen. Der Einwand war nachvollziehbar: Gehen wir auf die Fragen ein, die die Schüler:innen unausgesprochen an uns herantragen? Verstärkt ein bewusster Umgang mit dem Thema geschlechtliche Identität die Problematik, wollen wir das Thema möglichst nur beiläufig behandeln, um es nicht zum Problem zu machen?
Spricht man «out of the box» mit Oberstufenschüler:innen, scheinen die Diskussionen im Lehrer:innenzimmer jedoch antiquiert zu wirken. Man trifft sich mit seinen Leuten, akzeptiert selbstverständlich den veränderten Vornamen des transidenten Schülers und übt sich darin, das Personalpronomen dey bei einer nichtbinären Person zu benutzen. Auf die Frage hin, ob es Umkleideräume für nichtbinäre Menschen geben sollte oder unisex-Toiletten, sagen sie, das sei eher unwichtig, denn es komme viel mehr darauf an, dass man sich gegenseitig akzeptiere und gemeinsam als Klasse besprechen sollte, wer welche Räume benutzen möchte. Der größte Wunsch der Schüler:innen ist es, dass sich die Lehrkräfte mit dem Thema auseinandersetzen und ihre Haltung hinterfragen sollten. Das würde den Unterricht und die Schulkultur dann von allein verändern.
Identitätsfindung jenseits der Norm
Immer wieder taucht die Sorge auf, Transidentität und Nichtbinarität seien nur ein Trend oder gar «ansteckend», würden die Jugendlichen womöglich in Identitätskrisen stürzen und sie vom Lernfortschritt abhalten. Nun gibt es Klassen, die offener und selbstverständlicher damit umgehen und man könnte sich fragen, ob es einen Auslöser gab, der dazu führte, dass andere Mitschüler:innen sich nun auch mehr Gedanken zu ihrer Geschlechtsidentität machen. Positiv gesehen würde das bedeuten, dass sich immer mehr Schüler:innen trauen, sich außerhalb der Normativität zu betrachten und ihre Identität zu finden. «Toll!», könnten wir Pädagog:innen sagen, «Wo ist das Problem? Genau das beabsichtigen wir doch.» Wie schwierig es jedoch ist, von der rationalen Einsicht zum passenden Handeln zu kommen, zeigt sich, wenn ein transidenter Schüler zwei Jahre nach seinem Coming-Out in seinem Zeugnis immer noch den alten Mädchennamen und das weibliche Pronomen liest. Es gänzlich zu vermeiden, funktioniert für kurze schriftliche Beurteilungen, offensichtlich jedoch nicht für ein mehrseitiges, komplexes Textzeugnis. Eine etwas überspitzte These dafür wäre: Den Lehrkräften ist ein stilvoll geschriebenes Zeugnis mit falschem Pronomen wichtiger als die geschlechtliche Identität der Person.
Das Pronomen mag für die Lehrkräfte unwichtig sein, für den:die Schüler:in ist das innere und äußere Aushandeln der sexuellen Orientierung oder der geschlechtlichen Identität jedoch ein ungemein schwieriger Prozess. Er:sie / dey kann trotz Offenheit und Toleranz des eigenen Umfeldes mit erheblichen gesellschaftlichen Hürden und persönlichen Krisen verbunden sein, sodass es wenig Sinn macht, von einer Wahl nach Lust und Laune zu sprechen und in der Schule darüber hinwegzugehen. In jeder Klasse gibt es statistisch gesehen zwei queere Menschen. Die Freiheit, die eigene Geschlechtsidentität und Sexualität auszuleben, sowie die Bemühungen um Gleichberechtigung bedeuten nicht, dass die Zweigeschlechtlichkeit irrelevant ist. Sie betonen lediglich das Recht eines jeden Menschen, sich unabhängig vom Geschlecht und dem sozialisierten Geschlechterverständnis der Umgebung frei entwickeln zu können. Wir sind alle Teil dieser Gesellschaft und haben die Möglichkeit, sie in eine gleichberechtigte und diskriminierungsarme Welt zu verwandeln. Die Auseinandersetzung mit Vielfalt ist also demokratiefördernd!
All diese Aspekte wollten meine Kollegin und ich in der dreiwöchigen Beziehungskunde-Epoche berücksichtigen. Wir schauten uns mit den Schüler:innen entsprechende Bilder aus der Kunstgeschichte an: den Umgang mit Nacktheit und Scham, die Schönheitsideale in der Menschheitsgeschichte, versteckte homophile Anspielungen, Hermaphroditen. Wir hatten Unterrichtseinheiten zur Distanzzone, zeichneten mit Kreide unsere persönliche bubble auf den Schulhof, entwickelten Quizfragen zur Sensibilisierung von Geschlechterstereotypen und achteten neben der üblichen Aufklärung darauf, sowohl biologische Unterschiede als auch Ähnlichkeiten und Zwischenstufen – beispielsweise den gemeinsamen Ursprung von Penis und Klitoris – darzustellen. Für Rätselraten und dann Erheiterung sorgte das Plakat, auf dem schön aquarellierte Abbildungen nebst Kosenamen für die Vulva aus allen Sprachen der Welt abgebildet waren. Das unsere Bemühungen erste Früchte trugen, zeigte sich auf der Klassenfahrt zum Ende des Schuljahres: ein Junge, der ersten Liebeskummer hatte, wurde von seinem Freund mitfühlend im Arm gehalten und beide blickten lange in das Lagerfeuer.
Schule beeinflusst Lebensläufe
Der Abschnitt im Leben, in dem Menschen die Schule besuchen, hat einen maßgeblichen Einfluss auf ihre Vorstellungen von gesellschaftlichen Strukturen und den damit verbundenen Erwartungen. In der Schule lernen junge Menschen neben dem Lernstoff auch wie sie sich in der Gemeinschaft verhalten sollten und was akzeptiert wird. Es ist entscheidend, dass sie in dieser Phase nicht von unreflektierten Vorstellungen über traditionelle Geschlechterrollen beeinflusst werden. Schüler:innen sollten Zugang zu Geschichten bekommen, in denen andere Formen der Geschlechtsidentität auf natürliche Weise dargestellt werden – nicht als Problem oder Drama, sondern als normale Begebenheit. Solange Erwachsene als Vorbilder und Gesprächspartner:innen nicht unsicher werden, fühlen sich auch die Kinder nicht überfordert oder manipuliert. Ganz im Gegenteil, alle Kinder werden dadurch in ihrem Sein positiv bestärkt und fühlen und erleben, dass sie fern von allen Schubladen, willkommen und richtig sind.
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