Ausgabe 09/23

Geschichtsunterricht auf dem Prüfstand

Michael Zech

Erziehungskunst | Was ist das Forum Geschichte?
Michael Zech | Das Forum Geschichte ist eine freie Initiative, bestehend aus rund 26 Lehrkräften. Diese setzen sich damit auseinander, wie Geschichtsunterricht heute gemacht wird; sie hinterfragen, wie seine Ausrichtung begründet ist und wo es Baustellen gibt. Ihr Ziel ist es, den Geschichtsunterricht – gemessen an den heutigen Bedingungen, den Herausforderungen und unserem Wissensstand – zu reformieren.

EK | Warum muss der Geschichtsunterricht an Waldorfschulen reformiert werden?
MZ | Geschichtsunterricht an der Waldorfschule war 1919 nicht nationalgeschichtlich, sondern menschheits- und weltgeschichtlich ausgerichtet. Das war damals ein bedeutender Fortschritt. Das historische Narrativ beschreibt, wie die Menschheit ihr kollektives Bewusstsein entwickelt; an Funden und Zeugnissen können wir den Wandel der Haltungen ablesen, die man zur Welt einnehmen kann. In bestimmten Teilen der Erde hat sich der Mensch aus einem eher kollektiven Zusammenleben immer mehr individualisiert. Diese Art von Geschichte ist stark von der Aufklärung und damit von einer europäischen Geschichtsbetrachtung bestimmt. Was Steiner aus seiner spirituellen Forschung zur Geschichte sagte, stand damals wenig in Widerspruch zur Erzählung von Weltgeschichte. Das betrachtet man heute zu Recht kritisch, weil die Fokussierung auf eine Abfolge von Hochkulturen viele Kulturformen dieser Erde nicht berücksichtigt. Eine solche Darstellung forciert eine hierarchisierende Argumentation, die so in eine strukturell rassistische mündet. Das wird aber im Klassenlehrerbereich bis heute in Konzeptkonstanz noch immer so vermittelt. Das heißt, vieles wird gemacht, weil es als typisch Waldorf gilt. Allerdings kann man es oft nicht begründen und sieht gar nicht, welch große Widersprüche zum heutigen Wissensstand bestehen.

EK | Wie kann das Selbstverständnis der Waldorfschulen und seine anthroposophischen Grundlagen angesichts der Herausforderungen der Gegenwart neu ausgerichtet werden?
MZ | Eine Errungenschaft von heute ist eine zunehmende Sensibilisierung für die Würde des Einzelnen. Man schreibt diese jedem Menschen, gleich welchem Geschlecht, Gender und Gesundheitszustand, welcher Herkunft und Religion, gleichermaßen zu. Ich schätze die heutige Auseinandersetzung um Werte der Nichtdiskriminierung und der Anerkennung. Dies korreliert mit den Zielen der Waldorfpädagogik: das Vorhaben, Pädagogik ausgehend vom Kind, also vom Individuum, zu gestalten und den Individuationsprozess des Menschen zu unterstützen. Insofern müssen wir nachdenken, ob wir noch Formen und Erzählungen vermitteln, die diesen Ansprüchen nicht mehr genügen.

EK | Wie erklären Sie sich, dass Lehrkräfte zu Materialien für den Geschichtsunterricht greifen, die nicht mehr zeitgemäß sind? Wo gibt es diese Materialien?
MZ | Ich glaube, das größte Problem schafft in Wirklichkeit die Praxis, in der die Klassenlehrer:innen stehen: Sie haben bis zum Freitag eine Chemie- oder Mathe-Epoche, und ab Montag sollen sie den nächsten Abschnitt in Geschichte unterrichten. Da braucht es fachlich geprüftes Material, auf das man sich verlassen kann. Und da gibt es scheinbar Bewährtes, das erfahrene Lehrer:innen weiterreichen, leider aber auch Fragwürdiges. Ich finde es beispielsweise gut, dass in der Schule Mythen behandelt werden. Die sind aber nicht zu verwechseln mit Geschichte. Hier gibt es in der Unterrichtspraxis leider Unklarheit und Irrtümer. Wir haben richtig viel zu tun, weil das Internet die Tradierung von veralteten Epochenheften im Ideenpool zum Beispiel wunderbar unterstützt. Das heißt, man klickt, hat eine Menge Material, greift vertrauensvoll darauf zurück und hält das für besonders Waldorf.

EK | Es handelt sich also gar nicht um Anregungen Steiners?
MZ | Nein, da liegt eine Schwierigkeit vor: Steiner wird so im Grunde religiös rezipiert. Eine gedanklich prüfende Auseinandersetzung, die man mit dem jetzigen Wissen und Bewusstsein in Beziehung setzt, tritt dabei in den Hintergrund. Wenn man einen Text liest und durchdenkt, geschieht das im Rahmen des eigenen Horizonts. Der Text entsteht in einem und man wird Co-Autor:in dieses Gedankens. Dieser Akt wird gerne übergangen und so der Text als Dogma rezipiert. Dann geht es darum, wer Steiner nun am besten versteht und was Steiner angeblich meinte. Rezeptionstheoretisch muss man etwas anderes in den Blick nehmen und zwar sich selbst. Das unterscheidet die quasi-religiöse Rezeption von einer modernen Rezeption, die sagt «ich trete in Verantwortung für meine Lesart».

EK | Wie können Sie sich erklären, dass man also gerade in der Anthroposophie, die bestärkt, frei und eigenständig zu denken, Dogmen vorfindet?
MZ | Es gibt das Bedürfnis, Sinn und Zusammenhang zu suchen. Da gibt es einen jahrtausendealten Zusammenhang; man erfasst die Welt mit einer religiös-metaphysischen Erklärung. Steiner bediente dieses Bedürfnis, hat aber schon zu Lebzeiten darum gebeten, seine Vorträge denkend zu prüfen. Ich habe die Theorie, dass bestimmte Kreise im Anthroposophischen anfällig für Verschwörungstheorien sind, weil sie im Grunde immer einen nicht fassbaren Erklärungshintergrund suchen. Ich stelle dem einen anderen spirituellen Zugang entgegen: Im Sinne von Steiners Idee des peripheren Ich begegnen uns eine Welt und Menschen, die uns Anlass geben, unser Ich auszubilden. Insofern sind alle Menschen, und auch die mich umgebende Welt, Teil meiner Persönlichkeit. Wenn ich mein Ich in Beziehungen realisiere, nennt man das das relationale Ich. In dieser Haltung sucht man nicht nach großen Erzählungen. Da schöpft man Bedeutung aus sich selbst und nicht aus der Zugehörigkeit – also nicht als Anthroposoph:in, als Deutsche:r, ich als dies und das. Die Bedeutung aus dem eigenen Individuellen zu generieren, ist das, was gelernt werden muss. Dazu muss Schule die Gelegenheit geben. Ich glaube, das ist eine der zentralen Aufgaben der Waldorfschule.

EK | Was ist für die Organisation der Waldorfschulen nötig, damit Material und Lehrplan am Puls der Zeit bleiben – vor allem im Kontext der Selbstverwaltung?
MZ | Die Herausforderungen der Selbstverwaltung sind Kompetenz
und Expertise. Im Bund der Freien Waldorfschulen gibt es ein Organ, nämlich die Pädagogische Forschungsstelle, die genau diese Aufgabe hat: Qualität im wissenschaftlichen Sinne weiter zu organisieren. Dazu werden jedes Jahr viele Projekte gefördert.
Wenn sich eine Schulbewegung als einzige in Deutschland einen eigenen Lehrplan leistet, dann braucht sie auch die entsprechende Man- und Womanpower. Sie muss online Material zur Verfügung stellen für einen überarbeiteten Orientierungslehrplan. Der erste Klick bringt dich vom Lehrplan auf die Ebene der Begründungen und Handreichungen, der zweite Klick zu Anregungen für die Unterrichtsgestaltung und zu Konzepten und der dritte Klick bringt dich zu guten Beispielen. Das ist niedrigschwellig und wir hoffen, dadurch eine Alternative zum Epochenheft der Vorgängerin oder des Vorgängers anzubieten. Da die Schulen und auch die Lehrkräfte letztlich autonom sind, können wir nur gute Angebote machen. Bisher habe ich aber gute Erfahrungen gemacht: Ich habe ein Geschichtsbuch für die achte Klasse zur Industriegeschichte herausgegeben. In knapp zwei Jahren wurden 2.400 Exemplare verkauft, weil sie in Klassensätze eingesetzt werden. Das Arbeitsbuch soll nicht die wertvolle Erzählung oder Darstellung der Lehrkraft ersetzen, sondern bietet hochwertiges Material im Überangebot an, so dass die Lehrkraft weiterhin selbst ihre Schwerpunkte setzen kann. Im Buch steht also mehr zur Industriegeschichte, als man in den drei Wochen behandeln kann. Ich habe es so geschrieben, dass Schüler:innen darin selbst weiterforschen können und das funktioniert, wie ich aus Rückmeldungen weiß. Dies ist ein Beispiel, wie wir den Klassenlehrkräften solides Material, auch Podcasts als Online-Material zum Download, zur Verfügung stellen können.
Wir befinden uns als Gesellschaft, also auch als Waldorfbewegung, in einem Umbruch. Die Waldorfpädagogik muss aktualisiert werden, in Auseinandersetzung mit dem, was uns umgibt und entgegentritt. Sie muss fortwährend neu begründet werden. Menschen zu lieben, bedeutet: Wir können es uns nicht länger leisten, diejenigen, auf die die Europäer auf ihren Fahrten gestoßen sind, zu vermassen und zu anonymisieren. Wir brauchen deshalb eine postkoloniale Waldorfpädagogik. Auf einer Veranstaltung habe ich vor Kurzem gesagt, dass nach heutigem Maßstab Steiner Rassismus vorgeworfen werden kann. Unter einigen gab es da einen unglaublichen Aufruhr. Wenn Steiner aber Menschen aus Afrika auf der Basis ihrer Leiblichkeit bestimmte Fähigkeiten zu- und abspricht, muss ich das kennzeichnen, ohne dabei Steiners Anthroposophie per se abzulehnen. Ebenso wenig verteidige ich Aristoteles‘ Frauenbild oder Haltung zur Sklaverei, wenn ich seine Logik benutze.

EK | Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Heidi Käfer.

Kommentare

Philip Nierste, Aachen,

Im Moment wird vieles in Frage gestellt, was in Waldorf-Schulen schon lange gepflegt wird. Das ist sicher gut und auch längst fällig mit Bezug auf ein System, das zum Teil schon seit 100 Jahren tradiert wird. Doch ist es wichtig, genau hinzuschauen und nicht im Reform-Eifer Dinge zu verurteilen, nur weil sie tradiert werden.
Michael Zech hält es für fragwürdig, dass im Waldorf-Geschichtsunterricht alte Hochkulturen, darunter die indische, altiranische, babylonische und ägyptische, eine Rolle spielen. Warum? All diese Kulturen haben Wegmarken für die europäischen Kulturen gesetzt, die dann wiederum die globale Kultur stark beeinflusst haben. So verläuft ein Zusammenhang der Sprachentwicklung über die indische Sprache Sanskrit und das Altiranisch bis zu den westeuropäischen Sprachen – sie alle gehören der indoeuropäischen Sprachfamilie an. Auch das Alphabet (Phönizien und Ägypten) und die Rechtsentwicklung (Hammurabis Tafeln/ Babylon) nehmen ihren Ursprung in Kulturen des Mittleren ...

Philip Nierste, Aachen,

Ostens und verwandeln sich auf ihrem Weg nach Westen in die uns heute bekannten Formen. Wenn wir uns diese Kulturen anschauen, besonders in der lebendigen Welt ihrer Schriftzeichen, Bauwerke, Bilder und Ornamente, betreiben wir also so etwas wie Ahnenforschung. Und das in einem etwas größeren Maß, als wenn wir weiter entfernt liegende Völker und ihre Erbschaften untersuchen, etwa die bewundernswerten chinesischen und altamerikanischen Hochkulturen.
Ist es nicht folgerichtig, bei den eigenen Wurzeln zu beginnen und den Blick dann schrittweise - in der späteren Mittelstufe und Oberstufe – global zu erweitern?
Eine gut umgesetzte Epoche zur babylonischen Kultur etwa können ein absoluter Höhepunkt der KlassenlehrerInnen-Zeit sein. Es ist genau dieses exemplarische Eintauchen, das ein tiefes Verbinden mit einer Vorstufe der heutigen Kultur ermöglicht – nicht einfach nur ein museales Betrachten oder analytisches Klassifizieren, sondern ein kleines Neu-Erleben.

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