Ein Leben mit Geschwistern prägt für das ganze Leben.
«Das ist total unfair!» Ich sitze auf dem Fahrersitz, den Autoschlüssel in der Hand, und weiche Armen, Ellbogen und Füßen aus. Der Kleine brüllt, der Große zerrt an seinem Ärmel und der Mittlere versucht sich an beiden vorbei auf den Beifahrersitz zu quetschen. Sie streiten wegen einer Strecke von fünf Minuten! «Könnt ihr euch nicht einigen», frage ich lahm. «Wir kommen noch zu spät!» «Er war gestern vorne», kreischt einer. «Nee, da war ich nicht vorne, sondern du!» «Chill einfach, ich sitz jetzt vorne!» «Chill doch selber, du Idiot!» «Immer der Älteste darf vorne!» «Das ist total unfair!»
Mit klingelnden Ohren steige ich aus, knalle die Autotür hinter mir zu und gehe ein paar Schritte nach hinten. Das Auto wackelt. War es nicht genau das, was ich mir als Einzelkind vorgestellt habe, wenn ich davon träumte, wie schön es mit Geschwistern wäre? Nicht ganz. «Wenn ich mal Ruhe wollte, musste ich mich auf der Toilette einsperren», sagte mir ein Freund, der mit vier Geschwistern aufgewachsen ist. Diese so unterschiedlichen Leben haben uns auf jeden Fall geprägt, unseren Charakter geformt, bis hinein ins Erwachsenenalter.
Eins, zwei oder drei?
Der österreichische Anthroposoph und Heilpädagoge Karl König schrieb 1964 das Buch Brüder und Schwestern. Geburtenfolge als Schicksal über die Geschwisterfolge, in dem er darlegte, inwiefern die Reihenfolge der Geburten in einer Familie schon über den Charakter des Kindes und sein Schicksal bestimmt. Er definiert darin die Geschwisterfolge als eine lebensprägende Schicksalsgabe. Das Buch verbindet Empirie, biographische Studien, Mythologie und Königs Menschenkenntnis, um die Aufgaben und Herausforderungen zu beleuchten, die mit der Position als einziges, erstes, zweites, drittes oder weiteres Kind im Geschwisterverhältnis verbunden sind. Diese Aufgaben würden den Menschen vom Anfang bis zum Ende seines Lebens begleiten und zur Sinnhaftigkeit der Existenz beitragen.
Auch die Psychologie ist lange davon ausgegangen, dass die Geschwisterfolge den Charakter formt. Erhalten haben sich diverse Narrative: Einzelkinder gelten als unsozial, eigennützig und ständig auf Aufmerksamkeit bedacht. Das erste Kind ist das vernünftigste, übernimmt die Rolle des Anführers und bahnt sich Freiheiten, denen die anderen folgen. Das zweite wächst sorgloser heran, bekommt aber weniger Aufmerksamkeit und gilt als ruhiger und harmonischer. Das dritte rebelliert stärker, handelt impulsiver und sucht bewusst das Risiko. Das vierte will sich unbedingt unterscheiden, ist verspielter und experimentierfreudiger. Das Sandwichkind bleibt zwischen älteren und jüngeren Geschwistern oft unsichtbar und erhält am wenigsten Beachtung.
Das Nesthäkchen ist verwöhnt und die Eltern setzen ihm nicht mehr genug Grenzen. Oft darf das Nesthäkchen bereits viel früher Dinge, die die anderen erst Jahre später durften.
Allerdings: Neueste Erkenntnisse sagen, es gibt keine solchen Charaktereigenschaften durch die Geschwisterfolge in Familien. Das hörte ich in einem Interview mit der Psychologin Julia Rohrer, die akademische Assistentin an der Universität in Leipzig ist. Mal ist das älteste Kind am vernünftigsten, mal ist es das zweite Kind oder das dritte, mal ist das Einzelkind sozialkompetent und teilt gerne – mal kann das Sandwichkind richtig aufdrehen und hält die Familie auf Trab. Meine Erfahrung ist, dass sich die Rollen der Kinder im individuellen Gefüge entwickeln – das heißt, wenn eins der Kinder der Rebell ist, versuchen die anderen eher die angepasste Rolle zu übernehmen. Gibt es mit einem Kind ständig Reibereien, ist oft das andere Kind harmonischer. Oft ergeben sich auch Rollen aus der Konkurrenz heraus und je näher die Geschwister vom Alter her beieinander sind, desto mehr. Das Konkurrenzverhalten ist nicht nur familiengemacht, sondern evolutionär bedingt, denn in der menschlichen Entwicklungsgeschichte ging es für die Kinder tatsächlich noch darum, wer am meisten Nahrung bekommt, wer der Stärkste ist und wer überleben wird. Das haben die beiden Psycholog:innen Stefanie Stahl und Lukas Klaschinski in einer ihrer Podcast-Folgen aufgezeigt. Für den Stern schreiben sie gemeinsam die Kolumne PsychoLogisch, ihr Podcast hat den Namen So ist es eben!
Außerdem «kooperieren» Kinder, wie der Familientherapeut Jesper Juul sagt. Sie gehen in Resonanz mit den Umständen, in die sie geboren werden und verhalten sich intuitiv so, dass sie das Familiensystem aufrechterhalten und stärken. Kinder aus Familien, die zum Beispiel aufgrund psychischer Erkrankungen der Eltern sehr instabil sind, übernehmen sehr früh viel Verantwortung. Wenn die Eltern viel streiten, versucht das Kind aus seiner kindlichen Weltsicht heraus für Ruhe, Harmonie und Frieden zu sorgen. Manchmal bedeutet das, dass Kinder sich «schwierig» verhalten, damit die Aufmerksamkeit der Eltern auf das Kind gelenkt wird anstatt auf den Streit. Manchmal geschieht aber auch genau das Gegenteil: Das Kind ist besonders freundlich und friedfertig, um die Harmonie zu wahren. Wenn mehrere Geschwister «stromlinienförmig» angepasst sind, gibt es oft einen Rebellen in der Familie, der die Grenzen aufweicht und Bewegung in die Sache bringt.
Es gibt so große Unterschiede zwischen Kindern in denselben Familienkonstellationen, dass das darauf hindeutet, dass Eltern und ihre Erziehung die Persönlichkeit eines Kindes kaum verändern können. Mir gefällt außerdem der Gedanke, dass, biographisch betrachtet, jede Seele für sich selbst schon vor der Geburt Pläne für das eigene Schicksal macht.
Ich kam immer zu kurz!
Obwohl die wissenschaftliche Bestätigung fehlt, sind die oben beschriebenen Eigenschaften der Kinder je nach Rang in der Geschwisterfolge in meinen Augen nicht vollkommen falsch. Ich kann mich durch solche Beschreibungen für meine Familie anregen lassen und Erkenntnisse gewinnen: Wie einen Mantel, den wir anprobieren, den wir aber auch wieder ausziehen, wenn er doch nicht so ganz passt.
Wichtig ist auch zu wissen, dass die Wahrnehmung durch solche Klischees beeinflusst werden kann: Ist das Sandwichkind wirklich zu kurz gekommen oder hat es immer das Gefühl gehabt, weil jeder davon ausging, dass es so war? Wir sollten als Eltern also vorsichtig mit solchen Festlegungen umgehen und sie lieber im Stillen für uns behalten, anstatt den Kindern etwas einzureden.
Wie wir später mit unserer Vergangenheit umgehen, wie wir mit Verletzungen leben oder sie überprüfen und reflektieren – wie wir aber auch die Rollenbilder, das «typisch» für uns nutzen oder wieder ablegen, das ist unsere Aufgabe. Damit können wir arbeiten oder auch «darauf sitzen bleiben». Dabei hilft uns nicht so sehr, zu klären, wer denn daran schuld ist, sondern vielmehr, diese Aufgabe als solche anzuerkennen und mit ihr umzugehen, als unsere Lebensaufgabe.
«Hej, Mama, wir kommen zu spät!» Die Jungs haben das Fenster geöffnet und sehen mich an. «Warum stehst du da draußen rum? Wir haben´s eilig!» Sie sitzen geordnet auf ihren Plätzen, als wäre nie etwas geschehen. Und sie sind einhellig der Meinung: «Mama, du bist schuld, dass wir zu spät kommen! Du hättest ja auch einfach mal losfahren können!»
Kommentare
Sehr schön beobachtet. Vor allem der Schluss ist "typisch".
Umwelt oder Genetik-- der Streit ist auch schon alt-- und wabert je nach Zeitläuften/Moden hin und her.
Die Individualität jedes einzelnen Menschen-- sogar Wesens auf der Erde-- ist jederzeit beobachtbar. Pferde- oder/und Hundemenschen wissen was ich meine!
Eine schwierige Frage ist dabei: Kinder/Menschen in prekären Lebenssituationen entwickeln sich ja auch! Wie ist es da mit den Einflussgrößen? Hunger, Krieg, Existenznöte, Angst, Tod, Einsamkeit...
Auch hier kann wieder der unterschiedliche Umgang festgestellt werden, je nach "Gemüt" nach "Hautdicke"...
Ein spannendes und unendliches Thema!
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