Auch, wenn nicht klar ist, was mit dem Wunsch, das Stück solle modern sein, eigentlich gemeint ist, kommt darin ein Bedürfnis zum Ausdruck, das ernst genommen werden will. Was liegt in der Luft? Was ist dran und passt, für diese Klasse und für diese Zeit? Dieses Mal fiel die Entscheidung im letzten Frühjahr, der Krieg in der Ukraine hatte gerade begonnen und die Corona-Pandemie hatte ihren Höhepunkt überschritten. Die Endlichkeit des Lebens war vor diesem Hintergrund auch in das Bewusstsein junger Menschen eingedrungen.
Schon 2010 hatte ich Schuld von Ferdinand von Schirach ohne abzusetzen durchgelesen. Sein Stil hatte mich gefesselt. Ich behielt Neuerscheinungen von ihm im Blick und kam so auf das Stück Gott. Darin beantragt der 78-jährige Richard Gärtner beim Bundesamt für Arzneimittel eine tödliche Dosis Natriumpentobarbital. Nach dem Tod seiner Frau will er freiwillig aus dem Leben scheiden. Sein Fall wird vor einer Ethik-Kommission diskutiert. Ihr gehören Jurist:innen, Mediziner:innen, Theolog:innen und die Anwälte des Sterbewilligen an.
Der rechtliche Hintergrund des Stückes basiert auf dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Sterbehilfe vom 26. Februar 2020, in dem die Autonomie des Menschen, über seinen eigenen Lebensentwurf frei zu verfügen, gestärkt wird. Dem stehen die Bedenken der katholischen Theolog:innen und Mediziner:innen gegenüber. Darf der Mensch die Entscheidung über ein Gut treffen, dessen Entstehen und Werden nicht in seiner Hand liegt und welches ihm (von wem?) verliehen wurde? Die Debatte der Sachverständigen ist spannend wie ein Krimi und existenziell berührend, denn es ist immer auch von einem selbst als einem sterblichen Wesen die Rede. Zudem gibt es im Freundes- und Bekanntenkreis oftmals konkrete Erfahrungen, welche die Frage nach dem Ende des Lebens berühren.
Der Autor Ferdinand von Schirach lässt in der Pause zwischen erstem und zweitem Akt eine Publikumsbefragung per Zettel durchführen. Gefragt wird nach Zustimmung oder Ablehnung der Gabe der tödlichen Dosis Natriumpentobarbital an den Sterbewilligen. Das Abstimmungsergebnis wird zu Beginn des zweiten Aktes mitgeteilt.
Nach der Lektüre des Stückes war ich einerseits fasziniert von der fast unerträglichen Spannung, mit welcher der Autor sein Thema dramatisch entfaltet. Bis auf Rede und Gegenrede gibt es keinerlei Bühnenhandlung. Die Figuren treten einmal auf, nehmen hinter den Sitzungstischen Platz und tauschen ihre Argumente aus. Andererseits stellte sich ein Bedürfnis nach einer zusätzlichen Erlebnissphäre ein, nach Transzendenz. Mir kam die Idee, dem Stück nach einer Pause eine eurythmische Darstellung des letzten Satzes aus Gustav Mahlers dritter Sinfonie folgen zu lassen. Der Satz ist überschrieben mit «Langsam. Ruhevoll. Empfunden.» Das thematische Material wird mit großer Intensität entfaltet und schwingt sich mit vollem Klang von Streichern und Bläsern zu hymnischen Höhen empor, darin der Musik Bruckners ähnlich. Mit Macht wird man in eine Erlebniswelt gezogen, welche die vorangegangenen Eindrücke aus dem Schauspiel in eine andere Sphäre heben kann. Auf die Welt klar konturierter Gedanken in oftmals scharfen Gegensätzen folgt eine wortlose, überräumliche Welt aus Klang und fließender Bewegung. Michael Meisinger, unser Eurythmielehrer, erklärte sich gerne zur Zusammenarbeit bereit und begann sogleich mit den Proben.
Worauf aber kam es bei der Probenarbeit zu einem Theaterstück an, in dem die Figuren von Anfang bis Ende hinter Tischen auf Stühlen sitzen und nur miteinander reden? Eine wichtige Voraussetzung war das volle Vertrauen in die Qualität des Spieltextes. Als Regisseur musste ich mir sagen können: «Wenn es dir gelingt, diesen Text in der Darstellung und Interpretation durch die Schüler:innen voll zur Darstellung zu bringen, dann können sich Problematik und Spannung entfalten und es wird kein Nachteil sein, dass äußerlich scheinbar nichts geschieht.» Während der Probe fanden wir schnell heraus, dass es vor allem auf Glaubwürdigkeit ankommt. «Du musst meinen, was du sagst!» Diese Aufforderung war während der Proben immer wieder zu hören. Es ging also nicht darum, zu spielen und so zu tun, als ob. Es ging gerade darum, nicht zu spielen! Im aktuellen Moment irgendeiner Rede durfte es keinen Unterschied mehr geben zwischen Spieler:in und Figur. Da es dabei nur um die Gedanken der Figuren ging und nicht um ihre Lebensgeschichten, entstanden die Figuren ganz aus ihren Überzeugungen. Auf den Proben konnte ich beobachten, wie aus den Worten langsam die Figuren entstanden, wie sich die Gedanken und Reden ihre leibhaftigen Figuren erschufen, sodass am Ende nicht nur Referent:innen unterschiedlicher inhaltlicher Haltungen zur Sterbehilfe auf der Bühne standen, sondern Menschen, die sich selbst durch ihre Gedanken zur vollen Darstellung brachten.
Dieser im Inneren ansetzende künstlerische Prozess wurde in der eurythmischen Arbeit mit der Musik Mahlers gleichsam umgestülpt. Alle Innerlichkeit kehrte sich nach außen, wurde zugleich Bewegung im Raum und bewegter Raum, getaucht in farbiges Licht. Ein Anklang an die Figur des Sterbewilligen im Theaterstück wurde in die Eurythmie hinein komponiert – als Andeutung und Erlebnismöglichkeit für die Betrachter:innen.Auch die Ergebnisse der in der Pause durchgeführten Befragung spiegelten eine Mischung aus aktuellen Empfindungen, hervorgerufen durch das Theatererlebnis und bereits bestehenden Haltungen zur Frage der Sterbehilfe.
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