Die Anthroposophie verstehe ich als geisteswissenschaftsbasierte «Lebenskunst». Und jede Grenzüberschreitung in der Kunst ist sinnvoll; folglich ist jeder, der sich aufmerksam mit Anthroposophie auseinandersetzt, studierend, meditierend, übend und auch handelnd, im Grunde ein «Grenzübertreter». Er wird durch die kritische Befragung der Grenzen des Hier und Jetzt, der durch Gewissheiten («die Wissenschaft hat festgestellt...», Expertenwissen) gesetzten Erkenntnisgrenzen geradezu motiviert, nicht an geistigen oder psychischen Schlagbäumen Halt zu machen, sondern weiter zu denken – und aus den daraus gewonnenen Ideen zu handeln, das heißt, die Ideen werden als Ideale die Motive seines Handelns.
Die Grenzen nicht zu überschreiten, käme für den suchenden, forschenden, erkenntniskritischen Menschen wohl kaum infrage. Im Gegenteil, das Bemühen um Erweiterung seiner beschränkenden Wissens- und Erkenntnisgrenzen, um geistige Bereicherung also, vergrößert selbstverständlich das seelisch-geistige Potenzial, das sein Handeln beeinflusst. Man bleibt lebendig. Dieses ist ganz im Sinne Goethes: «Man muß sich immerfort verändern, erneuen, verjüngen, um nicht zu verstocken.»
Sind Ideen der Anthroposophie «sterblich»?
Aus diesem Grund halte ich die Frage, ob manche Ideen Rudolf Steiners gestorben sind, für müßig. Vielmehr ist zu fragen nach den verschiedenen Lebensformen der Ideen: Sind sie wenigstens ansatzweise verwirklicht, lebendig? Oder eben noch nicht?
Wobei anzumerken ist: Leben, lebendig sein, heißt ja, in Bewegung sein in all ihren Facetten, von dynamischen Prozessen bis hin zu ruhigeren Phasen, sich dabei entwickelnd, verändernd, verwandelnd und möglicherweise daraus auch Neues hervorbringend.
Anthroposophie als reines Ideengebäude misszuverstehen, hieße, sie ihrer die Lebensverhältnisse impulsierenden Wirksamkeit zu berauben, sie bliebe unwirksam. Erst wenn die Ideen Motive des Handelns werden, sie ins Leben treten und dann zum Ideal werden, erweist sich ihre Kraft. Das bedeutet, dass Anthroposophie nicht aus einer diffusen Ideenwelt wirkt, sondern aus der Intuitionskraft der sich mit ihr verbindenden Menschen. Das Elegante dabei: Anthroposophie bleibt durch diese alternativlos notwendige Individualisierung vital, lebensfähig, zeitgemäß, möglicherweise auch zukunftsfähig! Der Weg ist das Ziel – und nicht das Wissen um etwas! Dieses ganz im Sinne Rudolf Steiners: «Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg ...».
Gleich fallen einem einige Initiativen ein, welche aus dem Impuls Steiners, die Ideale der Französischen Revolution durch die Dreigliederungskampagne ab 1918 sozial real wirksam werden zu lassen, verwirklicht wurden, sich entwickelten, manche aber auch scheiterten, um in kleineren Zusammenhängen auch heute immer noch beispielgebend zu existieren: in der Medizin, in der Kunst, in der Architektur, in der Landwirtschaft, im Bankenwesen, im sozialen Leben, in der Bildung durch die Waldorfschulen.
Das Gewohnheitsdilemma
Wenden wir uns exemplarisch zentralen Idealen der Waldorfpädagogik zu. Zugegeben: Die Realisierung dessen, was aus der unerschöpflichen Intuitionsfreude der «aus dem Geiste der Anthroposophie» Handelnden erwachsen könnte, lässt zu wünschen übrig – man hat sich an bestimmte Lebensformen gewöhnt, in denen man sich durchaus auch bequem eingerichtet hat. Die Verfasstheit und der Zustand zum Beispiel der in Schulform geronnenen Waldorfpädagogik lässt viel Raum für Neues. Die drei Ideale: «Lebendig werdende Wissenschaft! Lebendig werdende Kunst! Lebendig werdende Religion! – das ist schließlich Erziehung, das ist schließlich Unterricht», die Rudolf Steiner bei der Eröffnung der ersten Freien Waldorfschule im September 1919 benannt hat, sind wohl kaum mehr als ansatzweise realisiert. Das «Lebendig Werdende» dürfte, je bewährter eine Praxis ist, wahrscheinlicher in Richtung des Bewahrenden tendieren, wie zum Beispiel die Anregungen zum Lehrplan und zur Sozialgestalt der Schulgemeinschaft in Richtung einer Programmatik.
Die Gründe mögen darin liegen, dass «wir», gemeint sind professionelle «Waldorfleute», loyal an unseren Utopien und Schulutopien festhalten, dass wir von unseren Wunschfantasien von Schule, die wir verwirklicht zu haben glauben, nicht leicht loslassen können. Transformationen hin zu neuen Formen von Schule werden gern an dem Gewohnten gemessen und ebenso gern wird ihnen mit dem Grundsatzargument begegnet: «Ist das noch im Sinne der Waldorfpädagogik?» oder «Ist das menschenkundlich begründet?», um der unbequemen Auseinandersetzung und dem riskanten Zulassen von neuen Formen von Waldorfpädagogik, welche das Gewohnte irritieren könnten, auszuweichen. Die Macht der Gewohnheit des Lebens in der Waldorfblase, welche die Augen vor den aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen und Aufgaben verschließt, wie es Ehemalige in der jüngsten Befragung konstatieren, ist für mich Symptom eines erlahmenden Idealismus. Man leidet, um es kurz zu sagen, an einer Art Blasen-Schwäche.
Ideenwelt lebendig halten
Klammern wir uns, um den Gedanken fortzuführen, an unsere Vorstellungen von Waldorfpädagogik, an unsere Fantasien, Wünsche und sorgen so ungewollt für ein Ersterben des «Lebendig Werdens» von Kunst, Wissenschaft und Religion?
«Nun werde mal wieder lebendiger!» – Klingt absurd, ist aber ernst gemeint. Denn: Wer anders sollte das fordern, wenn nicht jede:r einzelne von sich selbst?
Was fangen wir denn auch an mit unserer ausgedehnten Lektüre von Texten anthroposophischen Inhalts, von Vorträgen Rudolf Steiners zur Waldorfpädagogik – beileibe keine Erbauungsliteratur und auch nicht geeignet, sich Wissen «draufzuschaffen». Denn wem soll dieses nützen, wenn es nicht in die Tat drängte?
Sich mit Ideen nur intellektuell zu beschäftigen, ist kräftezehrend, in gewisser Weise schwächend. So schrieb Steiner: «Jede Idee, die dir nicht zum Ideal wird, ertötet in deiner Seele eine Kraft.» Dagegen jedoch: «Jede Idee, die aber zum
Ideal wird, erschafft in dir Lebenskräfte.» Was hindert uns, mit diesen tatsächlich lebendiger zu werden?
Weckrufe
Ausführungen Steiners zu Idealen, die in naher Zukunft wirksam werden sollen, rufen geradezu nach diversen Verwirklichungsstrategien, gerade im Bereich der Erziehung. Kurz gesagt, handelt es sich um diese drei Ideale, die am 10. Oktober 1916 in Zürich in einem Vortrag von Rudolf Steiner, man muss schon sagen, in die Zeitsituation «hereingerufen» wurden: «Das erste ist soziales Menschenverständnis, das zweite ist Erwerbung der Gedankenfreiheit, das dritte ist lebendiges Wissen von der geistigen Welt durch die Geisteswissenschaft.»
Genau drei Jahre später greift Steiner, wiederum in Zürich, diesen Aufruf wieder auf: Er nennt drei Impulse, welche in den Seelen der Menschheit unbewusst veranlagt seien und die es wach zu ergreifen gelte, um die Wirkung der negativen «Gegenbilder» zu verhindern: Das Empfinden «absolutester Brüderlichkeit», dem, in jedem Menschen «ein verborgenes Göttliches zu sehen» und als dritten Impuls die Möglichkeit, das Denken aus seiner Befangenheit im Materialismus zu befreien.
Brüderlichkeit im Sinne von «sozialem Menschenverständnis» heißt laut Steiner «... jeden zu nehmen, wie er ist, und aus dem, was er ist, das Allerbeste zu machen». Das wäre nach meinem Verständnis heute das, was in der Waldorfpädagogik mit Inklusion und Interkulturalität als Aufgaben dringend zu verwirklichen ansteht.
Gedankenfreiheit wäre als die Möglichkeit zu sehen, sich von allen Autoritäten, welche Gedankenrichtungen vorgeben, zu befreien und gegen das Paradigma des Materialismus und dem damit verbundenen Reduktionismus ein geistoffenes Denken zu setzen. Das zielt insbesondere gegen die Dominanz des Spezialistentums, welches alle anderen, die auf dem Spezialgebiet keine Expert:innen sind, per se vom Diskurs ausschließt. Es ist selbstverständlich unmöglich, sich auf allen Gebieten zu spezialisieren, aber es ist notwendig, sich so weit urteilsfähig zu machen, um Methoden und Denkrichtungen des Spezialistentums identifizieren und beurteilen zu können.
Für die Pädagogik bedeutet dieses Ringen um Gedankenfreiheit ein Bemühen um einen intellektuell-geistigen Universalismus, der die verschiedenen Weltsichten ohne Priorisierung ins Spiel bringt: das bedeutet Standpunkt- und Perspektivvielfalt. Ein umfassendes Weltinteresse fordert Steiner daher von den Lehrer:innen der ersten Waldorfschule – man ahnt, welcher «Geist» den Unterricht beleben soll, um diese Aufgabe, Schüler:innen zu urteilsfähigen Persönlichkeiten heranzubilden, zu verwirklichen.
Idealverwirklichung in der Waldorfpädagogik wäre doch großartig und ließe sich daran erkennen, dass die Unterrichtsfächer mit ihren vielfältigen Methoden «... die Lernenden so anspornen, dass sie über sich hinauswachsen, und die Lehrenden so begeistern, dass sie ihren Lernstoff in einem völlig neuen Licht sehen. Und dafür gibt es nun einmal leider keine Patentrezepte», wie der Psychologe und Erziehungswissenschaftler André Zimpel schreibt.
Man erlebt: Aus der Anthroposophie gewonnene Ideale fordern Tätigkeit – aktuell mag man zwar eher von widrigen Winden sprechen, welche der Anthroposophie und damit auch der Waldorfpädagogik nicht günstig sind. Diese Winde wird man so schnell nicht ändern können, aber man hat die Möglichkeit, die Segel umgehend anders zu setzen!
Bei Interesse erhalten Sie gerne die exakten Quellenangaben und Literaturliste zu diesem Artikel. Anfrage per Mail an redaktion@erziehungskunst.de
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